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Ein Stehplatz erster Klasse

Madonna del SassoDas Frühstück war um zehn Uhr vorbei, der Centovalli-Express sollte erst gegen Mittag abfahren. Zwei Stunden ohne Zug fahren? Da zeigten sich bei einigen schon erste Ent“zug“serscheinungen, da musste man was tun. Hilfe kam in Gestalt der Funicolare, der Standseilbahn zur Wallfahrtskirche Madonna del Sasso. Zusammen mit sonntäglich gekleideten Mess- oder Spaziergängern und zünftig ausgerüsteten Wanderern ging es bis zur Endstation Orselina. Da aus der Kirche Gesänge und Weihrauch drangen, haben wir sie nicht besichtigt und uns nur das Kloster angesehen. Es ist auf einen Bergsporn gebaut und wirkt mit seinen hohen, fast fensterlosen Mauern, den verwinkelten Gängen und verschachtelten Innenhöfen eher wie ein Wehrbau als wie ein Kloster. Ursprünglich außerhalb der Stadt gelegen, sind die Vororte Locarnos um das Kloster herum gewachsen. Rechts und links davon stehen nun zwei moderne Tempel des Tourismus: eine große Hotelanlage und die ziemlich scheußliche Talstation der Luftseilbahn auf den Cardada.Madonna del Sasso

Wir sind dann durch ein Bachtal zurückgeschlendert nach Locarno. Orientierung war einfach: immer nur bergab bis wir wahlweise zum See oder zu Eisenbahnschienen kommen, dann links. Auf halber Höhe kamen wir an einem prachtvollen Stadtpalais vorbei, gelegen in einem schönen Park, umgeben von Mauer und Zaun. Am Tor dann zwei prosaische Klingelschilder. Auf dem einen stand Verwaltungsfachschule, auf dem anderen: Finanzdirektion. Es muss den Einwohnern von Locarno sicher eine große Freude sein, tagtäglich zu sehen, wie schön ihre Steuern wohnen.

Eine halbe Stunde vor Abfahrt waren wir am Bahnhof, d.h. am Bahnhof vor dem Bahnhof. Der Centovalli-Express hat seinen eigenen kleinen Bahnhof, über dem groß FART steht. Zwar ohne Ausrufezeichen, aber immerhin. Auf der Schweizer Seite läuft die Ferrovie autolinee regionali ticinesi (Fart), auf der italienischen Seite fährt dann Società subalpina di imprese ferroviarie (Ssif). Bis Oktober diesen Jahres. Einige der Viadukte sind reparaturbedürftig und dafür wird die Strecke dann gesperrt.

cento1In den ersten zehn Minuten der Fahrt sieht man erstmal gar nichts. Die Strecke verläuft in Locarno unterirdisch. Am Abend vorher hatten wir noch auf der Piazza Grande Schienen der alten Streckenführung gesehen, die plötzlich in Plastersteinen endeten.

Aber irgendwann kommt man dann wieder ans Tageslicht und der Zug klettert hoch ins Centovalli. Ich war ein ganz kleines bisschen enttäuscht von den Ausblicken (nach dem Bernina-Express ist es aber auch schwierig). Die Strecke verläuft im Hang und im Wald, so dass man zum großen Teil eben nur Bäume sieht. Ab und an tut sich ein Streckenstück auf, das einen Blick nach unten in die Schlucht mit dem milchiggrünen Fluss zulässt.

Hinter der Grenze weitet sich die Schlucht dann zu einem Hochtal mit zum Teil recht großen Dörfern. Einen der Orte, Santa Maria Maggiore, kündigte der Schaffner mit so viel Inbrunst an, dass es mehr wie ein Stoßgebet klang als wie ein Zugdurchsage. Vielleicht war er auch nur einfach froh, dass er es bis dahin geschafft hatte. Von da an ging es nämlich wieder bergab nach Domodossola. Zum Teil sehr langsam über schon eingerüstete Viadukte.cento4

Es hatte was von Klassenfahrt. Zu Beginn hatte jeder von uns einen ganz toll ausgearbeiteten Plan bekommen mit allen Informationen zu Zügen, Zeiten, Haltestellen, Gleis- und Abteilnummern. Und haben wir den benutzt? Nein, es war ja so viel einfacher, unsere Organisatoren zu fragen. So klang es wirklich fast wie in alten Zeiten: „Wann sind wir denn da?“ – „Auf welches Gleis müssen wir?“ – „In welchem Abteil sind …?“

Durch die Baustellen war unsere Umsteigezeit für Domodossola arg geschrumpft. Also ging es im Laufschritt durch die Unterführung und wieder hoch aufs Gleis vier, kurzes Bremsen vor zwei Schweizer Schaffnern, die uns erklärten, dass Abteil 001 nicht an der Spitze, sondern am Ende des Zuges sei – logisch, oder? – und ab in die andere Richtung.

Der Zug kam und es war nicht nur für uns genügend Zeit einzusteigen, sondern auch für einen Trupp der Zoll- oder Drogenfahndung, die sich mit drei Mann und zwei Hunden zwischen uns und unseren Koffern hindurch erst ins Abteil rein und dann wieder raus drängelten. So verging ein bisschen Zeit, bis wir überhaupt merkten, dass wir ein Problem hatten. Das Abteil war voll, fast alle Plätze besetzt, auch die für uns reservierten. Der Schaffner kam und musste erstmal lachen: „Jetzt haben Sie sich so beeilt und nun gibt es nur noch Stehplätze für Sie.“ Und versuchte zu helfen. Anders als die aufgerüschte, schon etwas ältere Blondierte, die nach missbilligendem Blick auf unsere Freizeitklamotten sehr spitz und fast akzentfrei meinte: „Dis is de first class, you know.“

fahrkarte1Letztendlich stellte sich heraus, dass die Schweizer Bahn sich bei der Reservierung nur für die Schweizer Seite verantwortlich gefühlt hatte. Wir hatten eine Reservierung – aber eben erst ab der Schweiz, ab Brigg. Wer hätte auch damit rechnen können, dass die Mailänder Expo ein so großer Sontagsausflugserfolg wird, dass dieser Zug voll ist. So ging es auf Stehplätzen durch den „Ist das jetzt der Simplon?“ – „Ja. Ah, nein, das war zu kurz.“ – „Aber jetzt?“ – „Ja – ah, nein, hmm.“ – „Und jetzt?“ „————– Ja! Das war der Simplontunnel.“

Dass zwischendurch ein junger Mann aufstand und einem unserer Freunde seinen Platz anbot, wurde von dem ganz verschreckt mit „Ich bin nicht so alt wie ich aussehe!“ abgelehnt.

Ab Brigg konnten wir dann ohne Altersangabe alle sitzen, auf den reservierten Plätzen.

In Genf gab es dann noch das Problem, unser Auto wieder zu finden, weil keiner uns mehr sagte, auf welchem Gleis unser Auto einfahren – pardon auf welchem Parkdeck der Wagen stand.

Aber keine Bange, diese Herausforderung haben wir auch noch gemeistert!