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Drunter und drüber

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Aufstehen um halb sechs. Es war ein langer und harter Kampf, aber wir haben ihn besiegt, den inneren Schweinehund, nach heftigen Diskussionen. Die Illusion, dass wir im Morgengrauen wenn nicht die Ersten, so doch unter den Ersten sein würden, wurde allerdings schon durch einen Blick aus dem Fenster zerstört. Es tummelten sich Hunderte von Besuchern auf den Floating Piers.

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Ohne Frühstück – noch so ein Diskussionspunkt – ging es zu Fuß – das Shuttle schlief sicher noch – durch die verschlafenen Gässchen von Sale Marasino nach Sulzano, wo wir uns heute brav in die Schlange einreihten, die morgens um halb sieben schon etliche Hundert Menschen umfasste. Wir waren aber sicher unter den ersten Tausend, die dann kurz danach wieder die schwebenden, schwankenden Stege betreten durften. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, es war noch recht kühl, die Menschen wohl alle in einem erst halbwachen Zustand. Jedenfalls war die Stimmung ganz anders als gestern. Nicht heiter-fröhliches Festival, eher feierliche Prozession. Menschen, allein, zu zweit in Familiengruppen, Menschen in Rollstühlen, kleine Menschen in Kinderwagen, alle strebten sie einem gemeinsamen Ziel entgegen. Wir ließen uns eine ganze Weile mittragen von der Menge und ihrer Stimmung, bis wir uns ganz banal zu einem Picknick niederließen. Frühstück auf den Floating Piers, das hatte etwas! Kurz nach 7 Uhr ging die Sonne dann auf und beleuchtete die Isola San Paola, unser aller Ziel. Über die Stege, die auch den kleinen ummauerten Hafen der Insel bedeckten, liefen wir bis zur Inselspitze. Und dort sah es aus wie in einem Tierdokumentarfilm. Man hörte förmlich die Stimme des Sprechers aus dem Off: „Im frühen Morgengrauen sammeln sie sich dann zu Hunderten in ihren Schlafkolonien. Erschöpft von der anstrengenden und langen Reise suchen sie sich einen Schlafplatz. Allein oder zu zweit legen sie sich nieder, gelegentlich sieht man Erwachsene mit ihren Jungen zu einem dichten Knäuel zusammengekuschelt. Ein überwältigendes Naturschauspiel!“ Wir standen eine Weile zwischen den Schlafenden und genossen die Wärme der aufgehenden Sonne. Es war ein fast perfekter Augenblick. Das einzige, was ihn störte, war die Präsenz eines Fernsehhubschraubers, der wie ein besonders lästiges und lautes Insekt über der Installation – und seinem Fernsehteam, dass auf einem der Stege Besucher interviewte – kreiste. Falls ihr zufällig den Bericht sehen solltet, wir sind die, die nicht in die Kamera winken.

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Irgendwann verschwand das störende Insekt und friedliche Stille breitete sich wieder aus auf unserem Weg zurück. Am Ende des letzten Steges betraten wir fast mit Bedauern das Festland und blieben ein paar Schritte weiter doch ziemlich perplex stehen. Der Platz vorm Eingang war überfüllt mit Menschen, eng an eng standen sie in den Absperrungen. Polizisten hielten die Straße frei und dahinter, in der Straße den Berg hoch zum Bahnhof, standen weitere Tausende Wartende. Es war kurz nach halb neun.

Unser Shuttle holte uns dann ab, ein deutsches Ehepaar stieg aus und meinte, wenn es gewusst hätte, dass wir einen früheren Bus bestellt hätten, wäre es mit uns gefahren. Der innere Schweinehund jaulte empört auf.

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Das italienische Frühstück war so lalala, viel Süßkram und seltsame Brötchen, aber der innere Schweinehund bestand darauf. Wir schauten uns die Straßenkarte an, wir schauten uns das Wetter an und beschlossen statt eine Stunde Stau in Mailand lieber zwei Stunden Umweg über Como, Lugano und den Nufenenpass einzuplanen.

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Zum Glück sind wir flexibel. An der Abfahrt nach Como standen die Autos schon Kilometer vorher auf der Abbiegespur im Stau. Also haben wir kurzerhand umdisponiert und sind weitergefahren in Richtung Aosta. Mailand hatte ein Einsehen mit uns und wir kamen zügig voran. Bei dem schönen Wetter wollten wir dann trotzdem nicht noch einmal im Dunklen unter den Alpen hindurch fahren, sondern mit dem Großen St. Bernhard Pass oben drüber. Bis zum Bernhardtunnel war schon wenig Verkehr, aber dann auf der Passstraße waren wir das einzige Auto – unter lauter Motorrädern.

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Allerdings zeigte sich in den Serpentinen dann ein kleines Problemchen. Mein Auto, das mir vorher angezeigt hatte, dass der Treibstoff locker bis Martigny reicht, bekam plötzlich die Panik und blinkte und piepte Nachrichten in beängstigend schneller Abfolge: nur noch 80, 70, 50, 47 km Reichweite. Unsere Freunde beruhigten uns, sie seien Mitglied in einem deutschen Automobilclub. Ein Anruf genüge und der deutsche Club würde die Schweizer Kollegen informieren, die dann mit einem Kanister vorbeikämen. Das würde problemlos funktionieren. Sie hätten das nämlich schon einmal getestet. Wenn auch auf einem anderen Bergpass.

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Mit 47 km Reichweite kamen wir auf der Passhöhe an. Gestern in Iseo hatten wir 31° gehabt, hier oben schwammen noch die Eisschollen auf dem See. Im Restaurant im Hospiz erklärte sich auch die Motorradkavalkade. Der ganze obere Stock war reserviert für ein Motorradfahrertreffen. Unser einfaches Tellergericht kostete dann in etwa so viel wie das viergängige Menü gestern Italien, aber so ist das in der Schweiz.

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Auf der Talfahrt spielte mein Auto das Meldespiel in umgekehrter Reihenfolge, bis wir ihm dann endlich an einer Tankstelle den Grund zum Jammern nahmen.

Drei Stunden später waren wir zuhause, wo uns unsere Katze vorwurfsvoll begrüßte.

Floating Piers

(Vorsicht, Überlänge!)

Es sind knapp 500 km bis Iseo, also versuchen wir früh loszukommen. In Chamonix hängen die Wolken tief ins Tal und nehmen alle Farbe weg. Die Alpen sehen aus wie eine alte Schwarzweiß-Postkarte.

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Hinter dem Mont-Blanc-Tunnel wird das Wetter besser, wovon man aber erstmal wenig merkt, da sich beim Abstieg ins Aosta Tal ein Tunnel an den anderen reiht. Die Po-Ebene ist immer noch so hässlich, wie wir sie in Erinnerung haben, der Verkehr um Mailand herum so chaotisch wie erwartet, aber dann geht es ja wieder in die Berge. Ab Bergamo informieren die großen Autobahnanzeigetafeln über die beste Ausfahrt zu den Floating Piers. Auf der Umgehungsstraße oberhalb des Lago d’Iseo sind sämtliche Notfallbuchten abgesperrt, um dumme Menschen davon abzuhalten, dort „nur mal schnell“ für ein Foto zu halten und so Unfälle oder Staus zu provozieren. Kunst als logistisches Problem.

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Auch die direkte Zufahrt zu den Orten bei den Piers  und somit zu unserem Hotel ist abgesperrt. Man muss sich in einem weiten Bogen von hinten nähern und an mehreren Polizeikontrollen den Buchungsbeleg vorweisen. Sale Marasino ist ein mittelalterlicher Ort, unser Hotel ein 500 Jahre altes Gemäuer und mein Navi meint, der kürzeste Weg sei der beste. Es führt uns in ein Gewühl immer enger werdender Gässchen, die einst für Eseltransporte ausgelegt waren. Ein Fiat 500 kommt sicherlich auch noch durch. Aber ein deutscher Mittelklassewagen? Es wird knapp, aber irgendwann fahren wir durch das Tor der Albergo und kurz darauf werfen wir vom Balkon unseres Zimmers einen ersten Blick auf die „Floating Piers“. Und die Menschenmassen.

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Unser Hotel bietet einen Shuttle-Service an und die Wirtin meint noch, wir sollten die langen Wartezeiten am Zugang zu der Installation vermeiden, indem wir mit dem traghetto direkt zur Insel übersetzen und von dort losgingen. Und so kommt es, dass wir uns am ersten Tag auf die Piers schummeln, aber nicht bewusst, eher als Notwehr. Vom Shuttle-Punkt sind es ein paar Hundert Meter bis zum Eingang. Die Menschenmassen dort sehen wir aber vorerst nicht, da wir einige Meter vorher in eine orange ausgekleidete menschenleere Gasse abbiegen. Der Security-Mensch betont mehrmals: „Only ferry! Ferry only, no access to piers!“ Und wir versichern ihm, dass wir genau das vorhaben – Ferry only – bis wir am Bootssteg die Preise hören. Für die knapp zweiminütige Überfahrt will der findige Bootsführer 15 Euro haben, pro Person. Richtig frech wird seine Antwort, als wir fragen, ob das wenigstens für Hin- und Rückfahrt sei: „Nein! Gehen Sie zu Fuß zurück, dann wird es billiger!“ Wir schauen uns um. Hinter uns steht eine Menschenwand, von Personal zurückgehalten, dann kommt ein leerer Platz und rechts von uns steht die Gruppe, die gerade Zugang zu den Piers erhalten hat. Wir klettern über die „Ferry only“ Absperrung und stellen uns dazu.

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Mitarbeiter lenken den Strom noch ziemlich streng über drei schmale Brücken: Nicht stehen bleiben, nicht anhalten, keine Fotos, und dann betritt man das erste der schwimmenden Bänder. Die schnöden Fakten zuerst: 16 Meter breit sind die schwimmenden Stege, die Unterkonstruktion bewegliche Module, abgedeckt durch Filzmatten und eben jenes leuchtende orangerote Gewebe, das sich in unregelmäßigen Falten darüber legt, wie ein üppig gerafftes Kleid um die wohlgerundeten Kurven einer schönen Frau. Ihr merkt, das mit den sachlichen Fakten ist schwierig. Man wird wirklich verzaubert. Die Module bewegen sich bei jeden Schritt, der See schlägt mit kleinen oder größeren – wenn ein Boot der Wasserpolizei vorbeibraust – Wellen dagegen, das alles schafft eine sehr verwirrende Erfahrung. Deine Augen sagen dir das eine, deine Füße erzählen eine ganz andere Geschichte und dein Kopf muss das Ganze irgendwie überein bringen und dabei noch Gleichgewicht halten. Es ist ein ganz besonderes Erlebnis, als laufe man auf dem Rücken eines lebendigen Wesens, einer riesigen Schlange etwa, deren Körper sich beim Atmen leicht bewegt. Eine Schlange, die vielleicht schläft und sich im Traum ganz sacht bewegt, zuckt, sich streckt und dehnt.

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Man läuft, man fühlt, man schaut, man erlebt. Die Stimmung ist wie bei einem Festival, einem Volksfest der besonderen Art: Fußball ohne Hooligans, Oktoberfest ohne Alkohol, einfach nur ein großes, kollektives Spaß- und Freude-Haben an dem gemeinsamen Erlebnis.

Und dann kann man Kunstrezeption bei der Arbeit zuschauen. Zuerst natürlich Unmengen von Kindern, von begeistert bis völlig erschöpft, immerhin sind es fast fünf Kilometer bei über 30°, meist ohne Schatten. Dann die Erwachsenen mit den Augen der Kinder. Das reine Entzücken im Blick, wie sie über die Piers laufen. Dazwischen den einen oder anderen, den das bisschen Kunst nicht wirklich beim Telefonieren stört. Wie etwas das ältere Ehepaar, das sich – beide, wenn wohl auch nicht miteinander – lautstark telefonierend durch die Menge schob, die Augen fest auf die Füße gesenkt. Oder der Typ Mensch, der den Blick stur auf seine vor sich hergetragene Handycam richtet. „Ich nehme das jetzt alles mal auf und schaue mir dann zuhause in Ruhe an, was ich gesehen habe.“

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Der erste 16m breite Steg führt zu einer Insel im See, wo sich das orangefarbene Gewebe über die schmalen Gassen eines kleinen Ortes ausbreitet und am Seeufer entlang zum nächsten Steg führt. Das heißt, es entsteht ein Engpass, wenn sich das Band von 16 auf knapp 4 Meter Breite verringert. Und genau hier trat dann mein Lieblingsfeind, der Selfie-Depp, in Massen auf. Dieser Typ Mensch, der wahrscheinlich Angst hat überhaupt zu existieren und deshalb zwanghaft seine Existenz alle paar Minuten per Selfie beweisen muss. Dafür natürlich an den engsten Stellen stehen bleibt, sich dreht und wendet für die beste Position und nicht mitkriegt oder bewusst ignoriert, dass er alle anderen ausbremst. Den Selfie-Depp gibt es auch im Zweierpack, der Paarversion, was das mit dem Engpässe blockieren natürlich noch effektiver macht. Der Vorläufer des Selfie-Depps, „Kunst ist nur dann schön, wenn ich bzw. meine Frau/Freundin davor steht.“, war natürlich auch weit verbreitet, ist aber nicht ganz so störend. Da dieser Typ für seine „Installation“ viel Platz und Zeit braucht „Ein bisschen weiter nach…, nein, jetzt dreh dich, mach mal so…“ stand der meist am Rand der Piers.

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Man konnte auch viel Kunst an der Kunstrezeption sehen. D.h. man sah zuerst einmal viel nackte Haut. Dass man das auf der Seite der Kunstobjekte sieht, im Louvre oder im Lateran, ist man ja gewöhnt, aber beim Kunstbetrachter? Das war doch recht neu für mich. Junge Mädchen zeigten in Shorts und Bikini-Oberteil ihre Schmetterlings- und Einhorntattoos, dickbäuchige Männer zeigten zu viel weißes Wabbelfleisch und braungebrannte, durchtrainierte junge Bademeistertypen, die alle paar Hundert Meter am Rande der Piers standen und aufpassten, dass niemand ins Wasser fiel, zeigten ganze Bild- und Textbände. (Mein Favorit: „My mother is my angel“, hach!)

Sehr irritierend fand ich dagegen einen älteren Herr in Radler-Klamotten, der seine Radlerhose so hochgekrempelt hatte, dass ihm die A…schbacken wie zwei Halbkugeln raushingen. Und die wackelten und schwabbelten direkt vor mir so dahin. Es war einfach nur furchtbar und schrecklich, aber so furchtbar und schrecklich, dass ich da immer wieder hinschauen musste. Letzen Endes habe ich ihn überholen müssen und dann hatte ich wieder Ruhe.

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Am ersten Tag haben wir „nur“ zwei der Piers erlaufen, die Isola di San Paola zu umrunden wollten wir uns für den nächsten Tag aufheben.

Gegen halb sieben hat das Hotel-Shuttle uns wieder abgeholt und nach einem kurzen Abtauchen im Pool saßen wir vor einer eisgekühlten Flasche Prosecco und setzten das Kaleidoskop des Tages zusammen. Ja, es war sehr heiß, anstrengend und überlaufen. Aber die Menschen waren (fast) alle gut gelaunt, neugierig und gespannt auf dieses besondere Erlebnis.

Die Festival-Atmosphäre, die dadurch entstand, ist für mich ein wichtiger Teil der Floating Piers. Der Traum eines jeden Museumsbesucher – die Mona Lisa ganz für sich allein zu haben – würde hier nicht funktionieren.

In deutschen Medien wurde die Frage diskutiert, ob das denn überhaupt Kunst sei. Völlig irrelevant. Für mich hat Christo hier etwas geschaffen, dass sehr viele Menschen anspricht, dass sie dazu bringt, einen Teil ihrer Welt mit allen Sinnen zu erfassen und diesen Teil neu und anders zu sehen. Viel wichtiger: er hat sie – wenn auch nur für kurze Zeit – glücklich und zufrieden gemacht. Wenn das mal keine Kunst ist!

… oder kann das weg?

Ja.

Ja.

Ziemlich.

Definitiv, jedenfalls für mich.

Klar, aber das finde ich eigentlich erstmal zweitrangig.

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So, damit hoffe ich, erstmal alle wichtigen Fragen (Ist das wirklich so beeindruckend? Sind da wirklich solche Menschenmassen? Ist das nicht heiß und anstrengend? Und das soll Kunst sein? Wird das ganze Zeug dann auch ordnungsgemäß recycelt?) beantwortet zu haben.

Morgen kommt dann mehr.

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