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Ein Stehplatz erster Klasse

Madonna del SassoDas Frühstück war um zehn Uhr vorbei, der Centovalli-Express sollte erst gegen Mittag abfahren. Zwei Stunden ohne Zug fahren? Da zeigten sich bei einigen schon erste Ent“zug“serscheinungen, da musste man was tun. Hilfe kam in Gestalt der Funicolare, der Standseilbahn zur Wallfahrtskirche Madonna del Sasso. Zusammen mit sonntäglich gekleideten Mess- oder Spaziergängern und zünftig ausgerüsteten Wanderern ging es bis zur Endstation Orselina. Da aus der Kirche Gesänge und Weihrauch drangen, haben wir sie nicht besichtigt und uns nur das Kloster angesehen. Es ist auf einen Bergsporn gebaut und wirkt mit seinen hohen, fast fensterlosen Mauern, den verwinkelten Gängen und verschachtelten Innenhöfen eher wie ein Wehrbau als wie ein Kloster. Ursprünglich außerhalb der Stadt gelegen, sind die Vororte Locarnos um das Kloster herum gewachsen. Rechts und links davon stehen nun zwei moderne Tempel des Tourismus: eine große Hotelanlage und die ziemlich scheußliche Talstation der Luftseilbahn auf den Cardada.Madonna del Sasso

Wir sind dann durch ein Bachtal zurückgeschlendert nach Locarno. Orientierung war einfach: immer nur bergab bis wir wahlweise zum See oder zu Eisenbahnschienen kommen, dann links. Auf halber Höhe kamen wir an einem prachtvollen Stadtpalais vorbei, gelegen in einem schönen Park, umgeben von Mauer und Zaun. Am Tor dann zwei prosaische Klingelschilder. Auf dem einen stand Verwaltungsfachschule, auf dem anderen: Finanzdirektion. Es muss den Einwohnern von Locarno sicher eine große Freude sein, tagtäglich zu sehen, wie schön ihre Steuern wohnen.

Eine halbe Stunde vor Abfahrt waren wir am Bahnhof, d.h. am Bahnhof vor dem Bahnhof. Der Centovalli-Express hat seinen eigenen kleinen Bahnhof, über dem groß FART steht. Zwar ohne Ausrufezeichen, aber immerhin. Auf der Schweizer Seite läuft die Ferrovie autolinee regionali ticinesi (Fart), auf der italienischen Seite fährt dann Società subalpina di imprese ferroviarie (Ssif). Bis Oktober diesen Jahres. Einige der Viadukte sind reparaturbedürftig und dafür wird die Strecke dann gesperrt.

cento1In den ersten zehn Minuten der Fahrt sieht man erstmal gar nichts. Die Strecke verläuft in Locarno unterirdisch. Am Abend vorher hatten wir noch auf der Piazza Grande Schienen der alten Streckenführung gesehen, die plötzlich in Plastersteinen endeten.

Aber irgendwann kommt man dann wieder ans Tageslicht und der Zug klettert hoch ins Centovalli. Ich war ein ganz kleines bisschen enttäuscht von den Ausblicken (nach dem Bernina-Express ist es aber auch schwierig). Die Strecke verläuft im Hang und im Wald, so dass man zum großen Teil eben nur Bäume sieht. Ab und an tut sich ein Streckenstück auf, das einen Blick nach unten in die Schlucht mit dem milchiggrünen Fluss zulässt.

Hinter der Grenze weitet sich die Schlucht dann zu einem Hochtal mit zum Teil recht großen Dörfern. Einen der Orte, Santa Maria Maggiore, kündigte der Schaffner mit so viel Inbrunst an, dass es mehr wie ein Stoßgebet klang als wie ein Zugdurchsage. Vielleicht war er auch nur einfach froh, dass er es bis dahin geschafft hatte. Von da an ging es nämlich wieder bergab nach Domodossola. Zum Teil sehr langsam über schon eingerüstete Viadukte.cento4

Es hatte was von Klassenfahrt. Zu Beginn hatte jeder von uns einen ganz toll ausgearbeiteten Plan bekommen mit allen Informationen zu Zügen, Zeiten, Haltestellen, Gleis- und Abteilnummern. Und haben wir den benutzt? Nein, es war ja so viel einfacher, unsere Organisatoren zu fragen. So klang es wirklich fast wie in alten Zeiten: „Wann sind wir denn da?“ – „Auf welches Gleis müssen wir?“ – „In welchem Abteil sind …?“

Durch die Baustellen war unsere Umsteigezeit für Domodossola arg geschrumpft. Also ging es im Laufschritt durch die Unterführung und wieder hoch aufs Gleis vier, kurzes Bremsen vor zwei Schweizer Schaffnern, die uns erklärten, dass Abteil 001 nicht an der Spitze, sondern am Ende des Zuges sei – logisch, oder? – und ab in die andere Richtung.

Der Zug kam und es war nicht nur für uns genügend Zeit einzusteigen, sondern auch für einen Trupp der Zoll- oder Drogenfahndung, die sich mit drei Mann und zwei Hunden zwischen uns und unseren Koffern hindurch erst ins Abteil rein und dann wieder raus drängelten. So verging ein bisschen Zeit, bis wir überhaupt merkten, dass wir ein Problem hatten. Das Abteil war voll, fast alle Plätze besetzt, auch die für uns reservierten. Der Schaffner kam und musste erstmal lachen: „Jetzt haben Sie sich so beeilt und nun gibt es nur noch Stehplätze für Sie.“ Und versuchte zu helfen. Anders als die aufgerüschte, schon etwas ältere Blondierte, die nach missbilligendem Blick auf unsere Freizeitklamotten sehr spitz und fast akzentfrei meinte: „Dis is de first class, you know.“

fahrkarte1Letztendlich stellte sich heraus, dass die Schweizer Bahn sich bei der Reservierung nur für die Schweizer Seite verantwortlich gefühlt hatte. Wir hatten eine Reservierung – aber eben erst ab der Schweiz, ab Brigg. Wer hätte auch damit rechnen können, dass die Mailänder Expo ein so großer Sontagsausflugserfolg wird, dass dieser Zug voll ist. So ging es auf Stehplätzen durch den „Ist das jetzt der Simplon?“ – „Ja. Ah, nein, das war zu kurz.“ – „Aber jetzt?“ – „Ja – ah, nein, hmm.“ – „Und jetzt?“ „————– Ja! Das war der Simplontunnel.“

Dass zwischendurch ein junger Mann aufstand und einem unserer Freunde seinen Platz anbot, wurde von dem ganz verschreckt mit „Ich bin nicht so alt wie ich aussehe!“ abgelehnt.

Ab Brigg konnten wir dann ohne Altersangabe alle sitzen, auf den reservierten Plätzen.

In Genf gab es dann noch das Problem, unser Auto wieder zu finden, weil keiner uns mehr sagte, auf welchem Gleis unser Auto einfahren – pardon auf welchem Parkdeck der Wagen stand.

Aber keine Bange, diese Herausforderung haben wir auch noch gemeistert!

Gletscherexpress 2.0, die “extended version“

Epress01 Dass einer nachtragend und kleinlich ist, da muss man schon mal mit leben. Aber auch noch ein schlechter Verlierer? Na gut, was kann man schon von so einem wankelmütigen Gesellen erwarten, der jeden Tag seine Meinung ändert?
Der Wetterbericht wollte sich an uns rächen und schickte uns das für gestern geplante Wetter einfach hinterher. Beim Aufwachen glänzten die Dächer Samedans regennass und auf den umliegenden Hügeln gab es Neuschnee. Was nicht so ganz verwunderlich ist, denn Samedan liegt schon auf fast 1800 Metern. Das heißt, wenn man es recht überlegt, dass diese „Hügel“ erst dort anfangen, wo unsere Jura-„Berge“ aufhören. Ahja…
Der Wetterbericht musste sich dennoch wieder dem Organisationstalent unseres Teams beugen und wir kamen fast trockenen Fußes zum Bahnhof.
Im Januar hatten wir ja schon Gletscherexpress 1.0 erlebt. Gestern gab es dann Gletscherexpress 2.0 im Sonnenschein. Und für heute war die “extended version“ geplant: Mit dem Bernina-Express von Samedan über die Alpen nach Italien. Der Zug fährt erstmal nur von Samedan nach Pontresina, dann wird der Stromabnehmer ausgewechselt, da die Bernina-Bahn mit einer anderen Spannung fährt als der Rest der Schweiz. Ganz ohne Zahnräder und ziemlich flott ging es dann die Berge hoch, vorbei an Gletscherzungen und wolkenverhangenen Berggipfeln. Die freundliche Stimme im Zug kündigte immer wieder große Namen an: Piz Bernina, Piz Palü und andere, zu denen wir nur schulterzuckend nicken konnten. Wir mussten es ihr glauben, mit sehen war nix…
Wahrscheinlich freute der Wetterbericht sich diebisch über diesen kleinen Erfolg, wir wollen es ihm gönEpress02nen. Dass er uns damit für die Bernina-Hochebene ein ganz besonderes Spektakel bot, wird ihn sicher ärgern, was wir ihm natürlich auch von Herzen gönnen.
Der Zug näherte sich dem Bernina-Pass, der auf einer Hochebene liegt. Diese Ebene ist durchzogen von Bächen, Hochmooren und Seen. Im seltsamen Licht, das durch die Wolken drang, wirkte diese Ebene fast mystisch. Die Wolken- und Nebelfetzen, die im Wind trieben, taten das Ihre dazu, eine ganz besondere Atmosphäre zu schaffen. Diese Hochebene hatte eine so wundervolle, starke Ausstrahlung, dass man am liebsten ausgestiegen wäre, um zuexpress2 Fuß Teil dieser Stimmung zu werden.
Das mit dem Fotoapparat einzufangen, ist fast unmöglich, zumal das Fotografieren aus dem rollenden Zug eher unbefriedigend ist. Immer hat man irgendeine Reflexion von Scheiben oder Mitfahrern im Bild und meisten kommt just, wenn man den Apparat in Schussstellung hat ein Tunnel, so dass man sich frustriert wieder hinsetzt.
express5Auf der Bernina-Hochebene, genauer gesagt beim Bernina-Hospiz (2253 m) hatte die rhätische Bahn ein Einsehen mit den Fotografen und hielt für zehn Minuten. Sofort strömten Scharen von Fotografen (und Rauchern) aus den Wagen und standen im wahrsten Sinne des Wortes vor einem Problem: der eigene Zug verdeckte die grandiose Landschaft, die man fotografieren wollte. Also kletterte man ein paar Meter höher, um das nächste Problem vor der Linse zu haben, den Wald aus Masten und Strom- und Oberleitungen, die für unsere Ankunft dort gesorgt hatten. Weitere, höhere Exkursionen bedurften eines sorgfältigen Abwägens: wie schnell bin ich von dort wieder am Zug und lohnt das Bild, eine Stunde Wartezeit auf den nächsten Zug in Kauf zu nehmen.
Irgendwie schafften es aber alle, Raucher, Fotografierer und „Nur-mal-frische-Luft-Schnapper“ wieder rechtzeitig am Zug zu sein.
Es begann der Abstieg, wieder ohne Zahnräder, und diesmal sehr langsam. Bei der Alp Grüm gab es wieder eine kurze Foto-Pause, um den beeindruckenden Bergkessel ohne ins Bild rutschende Tunnel oder Masten zu fotografieren.
Leider zeigte sich hier, dass auch das beste Organisationsteam machtlos ist gegen geballte menschliche Dummheit. Ich hatte meinen Fotoapparat eingepackt, aber das Ladegerät vergessen. Monsieur hatte sein Ladegerät eingepackt, aber ….
express3Nun denn, ab hier müsst ihr mir einfach glauben, Bilder als Beweis habe ich nicht.

Der Abstieg ins Tal war für einige von uns, die bei solchen Gelegenheiten instinktiv mitbremsen, etwas anstrengend. Aber einmal unten, bot der Bernina-Express einen weiteren – skurrilen – Höhepunkt. Er fährt in den Dörfern als „Straßenbahn“: die Schienen verlaufen auf der Hauptstraße mitten durch den Ort und die Hausmauern sind nur wenige Zentimeter von den Zugfenstern entfernt.
Kaum hatte der Express uns diese kleine Überraschung gezeigt, gab es die nächste: ein Viadukt, auf dem der Zug im Kreis quasi unter sich selbst hindurch fährt. „Wenn wir nur schnell genug gefahren wären, hätten wir uns selbst beim Unter-uns-durch-Fahren zuschauen können“, meinte ich, worauf Monsieur nur stumm den Kopf schüttelte.
Endstation des Bernina-Express ist Tirano, ein kleines italienisch-Schweizer Joint Venture. Der Schweizer Zug fährt bis in die Ortsmitte der italienischen Stadt. Endstation. Dort gibt es gelati und cappuccino und alles, was man sonst so mit Italien verbindet. Und ein paar Schritte weiter den italienischen Bahnhof, der die Stadt mit anderen Städten des italienischen Steckennetzes verbindet.
Und vor dem Bahnhof steht der Schweizer Postbus, der die Bernina-Expressler zurückbringt nach Lugano, wo sie dann wieder sicher auf Schweizer Boden ankommen.
Wir gönnten uns alles: italienisches gelati und cappuccino und den Schweizer Postbus.
Da uns zwei Nahverkehrsmittel nicht ausreichend erschienen, ging es von Lugano aus mit zwei verschiedenen S-Bahnen nach Locarno, unserer Endstation für heute.
War es Glück, war es Schweizer Gründlichkeit oder einfach nur die hervorragende Organisation? Alles klappte problemlos.
Und das italienische Essen in der Locanda Locarnese war der krönende Abschluss dieses wundervollen Tages.

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Die Entdeckung der Langsamkeit

Meine Vorstellungen waren sehr konkret: sanfte grüne Wiesen mit hingetupften Kühen, dunkle Wälder im Anschluss daran und oben drüber dann schroffe Berggipfel, gerne auch mit Schneefeldern. Habe ich was vergessen? Ach ja: Ein paar romantische Dörfer und den einen oder anderen Wasserfall, das wäre noch ganz nett. Bilderbuch-Schweiz halt eben – und das ganze bei strahlendem Sonnenschein. Der Wetterbericht grinste nur fies, schüttelte den Kopf und bot uns Regenschauer bei 8 – 12° Höchsttemperatur an.

Da hatte er aber nicht mit unseren Organisatorenteam gerechnet. Unsere diesjährige „Burgundfahrt“ sollte eben mal nicht nach Burgund, sondern durch fünf „Kantön“ und drei Länder führen. Meine Verantwortung war diesmal nur, pünktlich am Bahnhof zu sein. Das war zu schaffen.

Als der Zug langsam aus dem Bahnhof rollte, vorbei an den Hinterhöfen Genfs, zeigte sich die hervorragende Vorbereitung unseres Teams: die Wolken rissen auf und die Sonne kam hervor.

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Okay, ….

Auch Château Chillon zeigte uns seine Hinterseite, die aber immer noch deutlich attraktiver war als die graffiti-verzierte Industriebrache im Gleisbereich von Lausanne. Das Rhônetal bot so Unterschiedliches wie Weinberge im Tal und an den Hängen und in schönster Höhenlage ein absolut scheußliches Zementwerk. Durchs Waadtland ging es ins Wallis bis Brigg. Dort mussten wir zum Umsteigen nicht nur den Zug, sondern gleich ganz den Bahnhof verlassen. Der Gletscherexpress fährt auf den Gleisen auf dem Bahnhofsvorplatz ab. Und damit begann unsere Entdeckung der Langsamkeit. Im inzwischen strahlendem Sonnenschein schlenderte der Zug gemütlich die Berge hoch. Nicht umsonst rühmt sich der Gletscher-Express, der langsamste Schnellzug der Welt zu sein. Im Januar hatten Monsieur und ich diese Fahrt in Schnee und Nebel genossen und waren nun sehr überrascht, was wir alles nicht gesehen hatten unter der monochromen Decke. Dass vor Andermatt ein großer See liegt, das war uns völlig neu. In Disentis wurde umgespannt und wir genossen die Tatsache, dass der Wetterbericht nicht Recht behalten hatte, im warmen Sonnenschein. Bis zum Oberalppass (Kanton Uri) hatten wir schon die Quellgebiete von Rhône und Aare durchquert. Jetzt kam, schüchtern wie ein kleiner Junge, der schmächtige Rhein von rechts. Dieser schmächtige Junge kam dann aber recht schnell in die Pubertät und wir fuhren ab Ilanz durch die imposante Rheinschlucht, einen wirbelnden Wildwasserfluss zur Rechten. Kilometerweit ist die Bahnstrecke das einzige Zeichen menschlichen Wirkens in der Schlucht. Bei Reichenau verlässt der Express die Schlucht und biegt scharf rechts ab auf die Albula-Linie der rhätischen Bahn – in der Theorie. In der Praxis ist dies aber erst möglich, nachdem der Zug erst nach Chur gefahren ist, die Lok umgespannt wird und man, nun von der andere Seite kommend, im sanften Bogen abbiegen kann.

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… aber das ist von mir. (Wie man vielleicht sieht…)

Die Albula-Linie – UNESCO Weltkulturerbe – ist bekannt für ihre überraschenden Kehrtunnel und die vielen kühnen Eisenbahnviadukte. Kurz hinter Tiefenthal gelang mir ein ausnehmend schönes Photo vom weltbekannten Landwasser-Viadukt. (Ich habe einen Werbefilm der rhätischen Bahn abfotografiert, aber ihr verratet das ja nicht weiter, gell?) Mein eigenes Foto war dann doch deutlich weniger beeindruckend, aber das lag sicher nur am Wackeln des Zuges.

In Samedan waren es dann nur wenige Schritte bergauf vom Bahnhof bis zum beeindruckenden Bernina-Hotel von 1856. Abends wollten wir Engadiner Spezialitäten probieren im Restaurant „Hirschen“ und trauten uns an Gerichte mit so exotischen Namen wie „Capuns“ und „Schiatt“. Das eine sind eine Art Mangoldwickel mit einer Füllung aus Käse, Mehl und Schinkenwürfeln, epress2das andere Käsebällchen in Buchweizenteig ausgebacken. Als es noch der Hauptspeise Erklärungsbedarf zu einem der Desserts gab, stellte uns der Kellner statt langwieriger Erklärungen einfach den Likör hin, aus dem das Sorbet gemacht war. Das war eine Mischung aus Ramazotti und Fernet Branca, was dazu führte, dass wir uns dann doch für Engadiner Nusstorte und Apfelstrudel entschieden. Aber zuvor gab es eine Runde Erdbeer-Likör für die Mädels und Limoncello für die Knaben. Beim abschließenden Grappa wurden vier verschiedene Flaschen auf den Tisch gestellt, aus denen dann der Digestif „herausprobiert“ wurde.

Nach so vielen Spirituosen gab es dann auch noch Spirituelles. Vorbei an Bürgerhäusern mit kleinen Erkern und dem Stadtturm ging es zur Herz-Jesu-Kirche, die kompakt und dunkel auf einem Bergvorsprung liegt. Der Blick ist toll, die Kirche gibt sich geheimnisvoll. Ihr geducktes Schiff wirkt romanisch, die Fassade mit ihrer seltsamen Betonrosette erzählt etwas anderes.

Zurück im Hotel befragt Monsieur Wikipedia und erfährt, dass unsere „romanische“ Kirche 1910 erbaut wurde. Da hat sie uns aber schön drangekriegt.

… und retour

Also, um das mal ganz klar zu sagen: Vorurteile und Klischees sind ja nicht nur negativ. Sie sparen langwierige Abwägungs- und Evaluierungsprozesse und helfen uns somit, Situationen schnell einzuordnen. Das nur so vorweg.

p2015_01_24_10h04_29St. Moritz‘ Selbstbewusstsein wird es verkraften, wenn ich feststelle, dass es mir weniger gut gefallen hat als Zermatt. Wahrscheinlich haben auch wir St. Moritz weniger gut gefallen als sein übliches Publikum. Unser Hotel z.B. warb mit dem Bild eines Paares, das – Champagnerglas in der Hand – im Whirlpool im 6. Stock den Ausblick auf die Berge genoss. Wir haben nur die Sauna genossen, ohne Champagnerglas und mangels Tageslicht auch ohne Ausblick auf die Berge.

p2015_01_24_10h04_41Da wir nicht im Restaurant eines Hotels essen wollten, gestaltete sich die Nahrungssuche etwas schwierig. Während man im Zentrum von Zermatt neben Bäckerei, Metzgerei und Buchhandlung ein Restaurant nach dem anderen fand, lagen in der Fußgängerzone von St. Moritz eine Nobel-Boutique neben der anderen. Prada, Bogner und Co, sowie ein Laden namens Lamm, der hauptsächlich Pelze anbot. Fand ich ein bisschen zynisch die Namenswahl. Nachdem wir uns an Sonderangeboten und Schnäppchen (Skijacke für 1875,- statt 2200,- CHF) vorbeigekämpft hatten, fanden wir eine Pizzeria, die neben eben diesen auch Graubündner und italienische Nudelgerichte, z.B. mit Buchweizennudeln, anbot.

Am nächsten Morgen holten uns die Klischees ein. Alles, was ich hier beschreibe ist wahr, allerdings sind die Untertitel von mir.

Wir warteten in der Hotelhalle auf unser Shuttle, der junge Mann vom Valet-Parking fährt eine hochpreisige deutsche Limousine vor. Aus dem Hotel treten er, stattlich, korpulent, Typ Wirtschaftskapitän im Ruhestand, und sie, gleiches Alter, aber mit rotblonder Mähne auf jünger getrimmt. Sie setzt sich hinters Steuer, startet. Er zeigt mit der Hand nach vorne, sie nickt, der Wagen macht einen Satz nach hinten. Sie startet wieder, legt einen Gang ein, wieder springt er Wagen nach hinten. Lebhafte Diskussion im Inneren der Limousine. Ich sehe die Untertitel: „Schatz, du musst den ersten Gang einlegen.“ – Hab ich doch!“ – „Nein, das war der Rückwärtsgang.“ – „Aber das hier ist doch der erste!“ – „Versuchs noch mal!“ Sie startet wieder, legt den Gang ein, wieder springt er Wagen nach hinten. Er, schon etwas gereizter: „Schahatz, das war der Rückwärtsgang.“ – Sie, empört: „Aber du hast doch gerade gesagt, dass das der Vorwärtsgang ist.“ Nächster Versuch. Und wieder springt der Wagen nach hinten. Er: „Meine Güte, jetzt schau mal genau her: wo ist der erste Gang?“ Sie schaut und schaut, schiebt die Unterlippe vor und kommt zu der Erkenntnis: „Da ist gar kein erster Gang!“ Er fährt sich langsam und sehr beherrscht mit beiden Händen durchs Gesicht und presst dann etwas Unverständliches zwischen den Zähnen durch, woraufhin sie beleidigt aufschreit: „Dann sieh du doch zu, ob du den blöden Vorwärtsgang findest!“ und aus dem Auto springt. Er kommt von der anderen Seite um den Wagen herum, steigt ein, startet. Und der große Audi fährt sanft los, vorwärts, selbstverständlich.

Nach diesem viel versprechenden Anfang war der Rest der Heimreise leider ziemlich normal.

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Zermatt – St. Moritz

panoramaOkay, das Zimmer war sehr groß und schön. Und die Aussicht! Diese Aussicht! Auf die Außentreppe des gegenüberliegenden Hotels. Ganz ehrlich? Mir war es gerade recht, dass wir keinen Matterhorn-Blick hatten. Denn langsam wurde mir das Matterhorn etwas unheimlich. Allein in der Hotelhalle hing es fünf Mal: in Öl, als Aquarell, ja sogar in Buntglas. Und im Flur zu unserem Zimmer gab’s das nächste. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es ist überall und wenn ich mich rasch und unerwartet umdrehe, steht es heimlich hinter mir und schaut mir über die Schulter. Auf dem Weg zum Bahnhof gab es dann noch einen Abschiedsgruß: die Bäckerei um die Ecke pries auf einer Schiefertafel ihre Spezialität an. Genau! Matter-Hörnli!

p2015_01_23_13h06_00Um 8:52 ging es los im Gletscher-Express, dem langsamsten Schnellzug der Welt. Stilvoll im Erste-Klasse-Abteil, dank der edlen Spender. Im strahlenden Sonnenschein fuhren wir von Zermatt los, hinein in die engen Schlucht und hinab bis nach Visp. Mitten in Wolken und Nebel, die ab da unsere Begleiter bleiben sollten. Allerdings gab es da schon gewaltige Qualitätsunterschiede. Während die Sicht nach oben konstant durch die Wolkendecke verhängt war, sorgte der Nebel für Abwechslung. Er spielte mit uns. Manchmal war er nur ein zarter Schleier, der durch’s Tal trieb und die Landschaft weichzeichnete. Manchmal spielte er Verstecken mit uns, sodass man in der Nebelwand nach Hinweisen auf Dörfer und Wälder suchen musste. Kurz vor Andermatt trat der Nebel in seine monochrome Phase. Er wurde so dicht, dass man beim Blick aus dem Fenster keine Unterschiede mehr zwischen Nebelweiß und Schneeweiß ausmachen konnte – alles eine monochrome Umhüllung. Wie eine warme weiche wollige Masse.

In Andermatt hatten wir 10 Minuten Aufenthalt, die das Zugpersonal nutzte, den Mittagstisch einzudecken. Wie schwierig es ist, in einem schwankenden und ruckelnden Zug zu servieren, hatten wir am Fußbad des morgendlichen Kaffees bemerkt. Die Neigungen und Steigungen tun ein Übriges dazu. Angeblich gab es in den alten Zügen Weingläser mit schrägem Fuß. Die Passagiere wurden dann vom Personal je nach Steigung informiert, in welche Richtung sie ihre Gläser drehen sollten. Unser Zug hatte normale Gläser, aber einen „Flaschensafe“, eine Vertiefung im Tisch, vor dem Fenster, in die man Mineralwasser- und andere Flaschen neigungssicher verstauen konnte.

glacier1Wir hatten mit unseren sehr netten Schweizer Gangnachbarn eine kleine Wette laufen, ob das Wetter hinter dem Furka-Tunnel besser würde. Leider hat der Nebel die Wette gewonnen. Vor bzw. hinter vielen Tunneln der Strecke gibt es Lawinengalerien. Diese Galerien sorgen für ganz besondere Seh-Erfahrungen. Sie sind nicht ganz geschlossen, Lamellen verhindern, dass Schnee hereinweht und führen beim Vorbeifahren zu Stroboskop-Effekten. Und ist der Ausblick dann dank Nebel und Wolkendecke kontrastreich schwarz-weiß, so wirkt die vorüberziehende Landschaft wie eine ruckende Filmsequenz aus einem alten Stummfilm.

Der Zug näherte sich dem Oberalppass, mit 2050m der „Höhepunkt“ der Reise und Inhalt der nächsten Wette. Und tatsächlich, als wir aus dem Lawinenschutztunnel herauskamen, waren wir oberhalb der Wolken. Es empfingen uns blauer Himmel und schneebedeckte Weiten unter strahlender Sonne. Netterweise näherte sich von der anderen Seite ein Güterzug, sodass wir an der Ausweichstelle seine „Kreuzung“ (O-Ton der Schweizer Ansage) abwarten mussten, genussvolles Verweilen im Sonnenschein. Aber Züge sind nun mal nicht dafür gemacht, über den Wolken zu fliegen, also tauchten wir wieder ab. Nach dem geografischen und meteorologischen Höhepunkt der Reise ging es wieder bergab ins Tal, fast im Schritttempo (20-30 km/h sagte Monsieurs Lebensgefährtin), mit ruckelnder Zahnradbremse. Den Nebel hatten wir im Wallis gelassen, die Wolken nicht. So hatten wir „Mittelgebirgsoptik“ bei unserem Tiefflug durch die Täler. Tief verschneite kleine Dörfer, Faller-Häuschen auf der Märklin-Eisenbahn, gefrorene Wasserfälle oder Spitzenvorhänge aus Eiszapfen, da, wo sich das Tauwasser tagsüber über die Felskante getraut hatte.

Und amüsant war die Fahrt auch, einmal fast ein bisschen zu unterhaltsam. Wir haben den Slapstick – leider? zum Glück? – nur knapp verfehlt. Der Herr vom übernächsten Tisch war der Meinung, dass der Ausblick vom Nachbarfenster sicher besser sei und bewegte sich vorsichtig schwankend durch den ruckelnden Zug. Just auf Höhe unseres Tisches legte sich der Zug langsam in die Kurve und der Herr verlor das Gleichgewicht. Sein jeans-behoster Popo war wirklich nur noch Zentimeter von meinem Nachtisch entfernt, als Mitfahrer auf der anderen Seite des Ganges beherzt zugriffen und so ihn und meinen Nachtisch retteten. Nach Gelächter und Entschuldigungen kam er mit einem Stück selbst gebackenen Schoko-Kuchen aus seinem Picknickvorrat zurück.

Bei der Fahrt durch die imposante Rheinschlucht zwischen Ilanz und Chur störte die Mittelgebirgsoptik überhaupt nicht. Die Wände waren so steil, dass man die (eventuell vorhandenen, wer weiß? Wir nicht) Berge eh nicht gesehen hätte. Die Schlucht ist sehr beeindruckend. Wir kennen den Rhein ja eher als seriösen älteren Herren, groß und mächtig, aber auch behäbig und eingeschränkt durch die Uferregulierung. Hier war er ein junger Springinsfeld, der sich mit blaugrün gischtendem Wasser seinen Weg durch die Felsen bahnte.

p2015_01_24_12h04_33Ab Tiefencastell fuhren wir auf der Albulalinie der Rhätischen Eisenbahn und somit in einem UNESCO-Weltkulturerbe. Die Strecke bietet neben der Landschaft viele technische Highlights für Eisenbahnfans, Viadukte, Tunnel und Kehrtunnel. Bei Bergün schraubt sich die Bahn in mehreren „Kehren“ im und am Berg 400 Höhenmeter hoch, was auch dem langsamsten Fotografen die Möglichkeit gibt, das immer wieder auftauchende Dorf zu fotografieren. Die Albula-Passstraße ist im Winter gesperrt und wird zur 6 km langen Schlittenbahn. Es gibt am Wochenende spezielle „Schlittelzüge“, die die End- und Anfangspunkte der Schlittenstrecke bedienen. Die Bahnstrecke überquert mehrmals die Pass- und jetzt Schlittenstrecke. Man bekam richtig Lust, da mal mitzufahren.

Hinter Tiefencastell entschieden sich die Wolken uns, wenn schon keinen Ausblick, so doch etwas Romantik zu gönnen und wir fuhren im sanften Schneetreiben in den 6 km langen Albula-Tunnel ein.

Hinter dem Tunnel verbesserte das Wetter sich schlagartig und so sahen wir, was diese Bahnlinie so einzigartig macht: schneebedeckte Gipfel rechts und links. Allerdings auch gesperrte Straßen mit den Warnhinweisen: Lawinensprengung.

In St. Moritz wartete schon der Shuttle-Service unseres Hotels, der uns durch enge Gassen zu unserem Hotel in der Boutiquen übersäten Fußgängerzone brachte.

Die Pelzmanteldichte stieg schlagartig an.

Genf – Zermatt

Ich hoffe, es enttäuscht niemanden, dass wir kein so ökologisches Transportmittel wie das Fahrrad wählten. Unser Mittel der Wahl war die Schweizer Bundesbahn. Und die fährt nach eigenen Angaben zu 80% mit Strom aus Wasserenergie.

Liebe Freunde hatten Monsieur zum Geburtstag eine Fahrt mit dem Gletscher-Express geschenkt, von Zermatt nach St. Moritz. Allerdings startet der Express in Zermatt schon kurz vor neun, was für uns bedeutet hätte, vor fünf Uhr in Genf zu starten. Deshalb haben wir uns für die gemütliche Variante entschlossen und zwei Übernachtungen am Start- bzw. Zielort gebucht. So wird aus einer Zugfahrt ein kleiner 3-Tage-Urlaube. Danke nochmals!

Die Wettervorhersagen waren allerdings nicht richtig gut, aber am Tag vor der Abfahrt verbesserten sie sich sehr. Wer auch immer das organisiert, vielen Dank.

p2015_01_22_14h35_10Der Genfer See lag im tiefen Nebel verhüllt, die umgebenden Berge verschwanden hinter Wolken. Château Chillon war gerade noch zu erkennen, als wir den See verließen, um ins Rhonetal einzufahren. In Visp hieß es umsteigen und wir nutzten die Wartezeit, um in der Coop ein improvisiertes Picknick aus Weckli, Gendarmes und Obst zu kaufen. Der kleine Zug der Matterhornbahn kam, wir stiegen ins fast leere Abteil und breiteten nach der Abfahrt unser Picknick auf dem kleinen Tischchen am Fenster aus. Bei Stalden begann dann der steilste Anstieg der „steilsten Bahnstrecke“ Europas. Es ruckelte und knackte und knirschte und die Zahnräder griffen in die Zahnstange. Mit einem letzten Krachen ruckte der Zug an, den Steilhang hoch, und unser Picknick rutschte mir in Zeitlupe entgegen. Die nächsten Minuten waren wir damit beschäftigt, den Bewegungsdrang unseres Essens zu bändigen. Dass wir dabei die Wolkendecke hinter uns gelassen hatten, fiel uns erst auf, als wir die ersten schneeglitzernden Berge rechts und links sahen.

Zermatt begrüßte uns wenig später mit strahlendem Sonnenschein und die Gornergratbahn mit der Ankündigung, dass die nächste Bahn in 15 Minuten führe. Unser Hotel war zwar nur angebliche drei Gehminuten vom Bahnhof entfernt, aber mit der Zeit fürs Einchecken, Koffer auf’s Zimmer bringen und den Rückweg war das wohl nicht zu schaffen. Also richteten wir uns auf die nächste Bahn, 45 Minuten später ein. Aber dann kam mal wieder alles anders. Die Dame an der Rezeption unseres Drei-Sterne-Hotels begrüßte uns mit einem strahlenden Lächeln und den Worten: „Ich habe eine schlechte, d.h. eine gute Nachricht für Sie.“ Der Herr, der vor uns das für uns reservierte Zimmer hatte, hatte sich das Bein gebrochen und konnte nicht abreisen. Uns hätte man deshalb ins benachbarte Vier-Sterne-Hotel umgebucht, der Portier würde gleich unseren Koffer plus Rucksäcke dahin bringen. Sprach sie, um dann anzuschließen: „Aber wollen Sie nicht lieber die Sonne ausnutzen und jetzt erstmal auf’s Gornergrat fahren. Die nächste Bahn geht in – kurzer Blick aufs Terminal – sieben Minuten. Das schaffen Sie.“

Haben wir, um dann in der Bahn festzustellen, dass Handschuhe, Mützen und Sonnenbrillen noch in den Rucksäcken waren, die der Portier wahrscheinlich gerade von Hotel A nach Hotel B brachte.

p2015_01_22_15h47_20Das hinderte uns aber nicht daran, 40 Minuten später den Gornergrat zu bezwingen. In klirrender Kälte stapften wir bei strahlendem Sonnenschein durch den knirschenden Schnee auf den 3138m hohen Gipfel des Berges (vom 3089m hoch gelegenen Endbahnhof der Bahn). Man hatte auf der Aussichtsterrasse die Wahl auf unberührte Bergwelt zu schauen oder das imposante Kulmhotel zu bewundern mit dem Skizirkus im Hintergrund. Die Dohlen sorgten für kurze Momente des Schwindels, wenn sie aus der Tiefe vor einem auftauchten, ein paar Höhenmeter dazugewannen und sich dann wieder nach unten fallen ließen. Die Sonne, der glitzernde Schnee, die imposanten Berggipfel um uns herum: das war Winterlandschaft wie aus dem Märchenbuch. Plötzlich legten die Endorphine eine Sonderschicht ein und kleine Blasen des Glücklich-Seins blubberten fröhlich nach oben.p2015_01_22_16h26_44

Irgendwann machten sich aber trotz Endorphine die – 8 Grad und die vergessenen Handschuhe bemerkbar und wir „bewältigten“ den Abstieg zur 30 Meter tiefer gelegenen Bahnstation. Der Zug brachte uns gerade noch rechtzeitig zur Tea-time unseres Hotels, wo die Kuchenauswahl unsere Energiereserven wieder auffüllte und der anschließende Saunagang die immer noch eiskalten Füße wieder auftaute.

Ein kurzer Spaziergang durchs abendliche Zermatt brachte uns schließlich zum Hotel Post. In einem riesigen alten Scheunengebäude sind auf mehreren Ebenen Restaurants untergebracht, ein bisschen rustikal, ein bisschen kitschig, aber mit sehr sehr leckerer Küche.

Also genau das richtige für Touristen wie uns.