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Soll vorkommen

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Ich habe in den Tagen in Warschau zwei wirklich gute Führungen mitgemacht und viel erfahren und erlebt dabei. Ich habe gelernt, dass im Bus „18 listopad“ weder eine Haltestelle noch eine Buslinie angibt, sondern nur das Datum. Ich habe drei wundervolle Abende verbracht, hervorragend gegessen, viel geredet, getrunken gelacht.

Dafür ist die offizielle Stadttour am Ende der Konferenz ziemlich schlecht. Soll vorkommen, ist schade, kann man hier und jetzt aber nicht ändern. Das Deutsch der Führerin ist äußerst putzig mit Tendenz zu amüsanten Wortneuschöpfungen, da sie sonst eher in Englisch und Spanisch führt. Wir schlagen vor auf Englisch zu wechseln, was sie aber mit dem listigen Argument ablehnt, so könne sie an unserem Lachen sehen, dass wir aufpassen.

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Treffpunkt ist vor „Stalins Torte“, dem Monstrum von Turm des Kulturpalastes. So komme ich auch ohne Skybar noch zum Blick über Warschau. Aber es ist knapp! Vor dem Aufzug hängt noch die Halloween-Deko und es bedarf Monsieurs geballter Ablenkungskraft mich daran vorbei zu schleusen.

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Die 30 Stockwerke vergehen wie im Flug und das Erste, was wir sehen, als wir auf die Aussichtsterrasse treten, ist die Tatsache, dass der Regen in dieser Höhe Schnee ist. Libeskind Turm draußen ist beeindruckend, aber mir gefällt die pompöse Dekoration innen besser. Leben möchte ich in keiner von beiden. Von hier oben wirkt die  sozialistische Architektur auch nicht attraktiver als von unten, wir treten im eisigen Wind von einem Fuß auf den anderen, während unsere Führerin Anekdote an Anekdote reiht. Besonders hübsch die, dass die erste Mc-Doof-Filiale von einem Bischof geweiht wurde, bevor die Öffentlichkeit in kulinarischen Kontakt mit kapitalistischen Fastfood treten durfte. Ja, hübsch sind sie, die Geschichten, aber auch zeitraubend. Das wird dann das Leitmotiv sein. Wir fahren am Denkmal des Warschauer Aufstandes vorbei, dürfen einen kurzen Blick aus dem Bus darauf werfen, keine Zeit anzuhalten. Schade, ich fand die Steinbank, die auf Knopfdruck Chopin spielte, einfach umwerfend. Wir fahren durch den Ghetto-Bezirk zum POLIN, wo die Teilnehmer aussteigen und das Denkmal bewundern sollen. Ich bleibe im Bus, will mir meine Erfahrung von gestern heute nicht zerreden lassen. Bei der Rückkehr drückt mir jemand die Schulter und meint: „Gut gemacht, außer kalten Füßen…“

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Der „Höhepunkt“ kommt dann am Schlossplatz, wo wir eine Viertelstunde vor der klassizistischen Kirche das Abbild des polnischen Königs als Apostel identifizieren und bewundern dürfen, bevor wir im Laufschritt zum Denkmal der Opfer von Katyn geführt werden. Ich bin mir vollstens bewusst, welch ein Trauma dieses völkerrechtliche Verbrechen für Polen darstellt. Dass uns aber dann gesagt wird, wir hätten jetzt leider keine Zeit mehr, die Altstadt mit ihren wieder aufgebauten Markplätzen und Straßenzügen zu sehen,  zeugt von schlechtem Zeitmanagement und falsch gesetzten Schwerpunkten. Einige Teilnehmer sind auch etwas verärgert und fahren nach dem Mittagessen auf eigene Faust zurück in die Altstadt.

Das Mittagessen ist dann der Abschluss der Konferenz. In den alten Markthallen kommt mit der heißen Suppe als Vorspeise genau das, wovon wir auf dem Schlossplatz mit eiskalten Füßen geträumt haben. Gänsekeulen bzw. ein vegetarisches Risotto folgen, ein Käsekuchen ist der Abschluss. Wir sind so wohlig satt, dass wir fast ohne Zögern an Warschaus verführerischster Chocolateria  vorbeigehen können. Nur einen kurzen Blick, nur einen noch, die herzförmigen Pralinés sind genau das: herzallerliebst.

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Am Bus wird gedrängt, schnell einsteigen, bitte, der Bus steht im Halteverbot, alle da? Nein, Monsieur fehlt. Bis gestern war es stets der Kollege aus Genua, der zu spät kam, heute zur Abwechslung der aus Genf. Aber da kommt Monsieur angejoggt und ich bin erleichtert. Ich hänge doch sehr an ihm und hätte es schon schade gefunden, ihn hier zurücklassen zu müssen.

 

Ein paar Stunden später kommen wir zuhause an.

Monsieur zieht mit einem spitzbübischen Grinsen eine flache Schachtel aus seiner Tasche.

Und ich weiß genau, warum er zu spät zum Bus kam.

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Jewish Ghetto Tour

 

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Wie zeigt man etwas, das nicht mehr existiert?

Die Jewish Ghetto Tour beginnt an der Kościół Wszystkich Świętych. Da ich mir nicht zutraue, mir das korrekt zu merken und noch viel weniger, es genauso korrekt auszusprechen, schreibe ich es auf meinen Spickzettel für heute. In schönen klaren Druckbuchstaben, nicht dass der Taxifahrer mich nach „Sauklaue“ fährt. Darunter kommt dann gleich 6 Mordechaja Anielewicza, die Adresse des POLIN, das Museum zur jüdischen Geschichte in Polen. Das ist mein Ziel für heute Nachmittag, mit einem Zwischenstopp im Museumscafé des POLIN, das mit einer äußerst interessanten Karte lockt.

An der Kościół Wszystkich Świętych, der Allerheiligenkirche, warten schon einige andere Interessierte. Piotr, unser Führer, löst auch gleich das Rätsel, weshalb eine Kirche Ausgangspunkt einer Führung zum jüdischen Ghetto ist. An der Grenze zum Ghetto gelegen, war sie in den ersten Jahren der Besatzung Schleuse und Zufluchtsort, um Juden bei der Flucht aus dem Ghetto zu helfen. Ganz in der Nähe liegt die einzig überlebende Synagoge von einstmals über 400. Dort erbaut, weil der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde um 1870 aus seinem Haus am Plac Grzybowski dem Entstehen der Allerheiligenkirche zuschauen konnte und beschloss: Wenn er schon den Rest seines Lebens auf eine Kirche schauen muss, möchte er doch wenigstens auch einen Blick auf eine Synagoge haben. Auf dem Weg zur Nozyk-Synagoge kommen wir an ersten Schautafeln vorbei, an denen wir Informationen zum Ghetto, aber auch zum Verlauf der Führung erhalten. Es stellt sich heraus, dass mein zweiter Spickzettel unnötig war, denn nach 2 1/2 Stunden wird die Führung am POLIN enden.

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Diese 2 1/2 Stunden werden eiskalt sein, aber sehr intensiv. Piotr spricht wahnsinnig schnell, es verlangt viel Konzentration, ihm zu folgen. Ich bin ihm dankbar, dass er zur jüngeren Geschichte immer nur von „the Nazis“ und nicht von „the Germans“ spricht. Etwa irritierend finde ich, dass er Hitler einen Artikel beistellt. „The Hitler“ wirkt auf der einen Seite für mich fast verharmlosend, so als sei „the Hitler“ nur einer von vielen Hitlers. Andrerseits kann ich mir auch THE in Großbuchstaben vorstellen, um die einzigartige Monstrosität dieses Menschen hervorzuheben. Das beschäftigt mich etwas, während wir im schneidenden Wind durch anonyme Nachkriegsarchitektur laufen. Zu sehen gibt es wirklich nicht viel, ein Mietshaus, vielmehr dessen Ruine, das im ursprünglichen Ghetto stand, ein Teil der Mauer, die das Ghetto umschloss, das Haus des Judenrates, Strukturen und Markierungen am Boden, die die Mauer und die Brücke nachbilden, wenig, was ich fotografieren möchte oder dessen Wirkung ein Foto einfangen kann. Das Eindrückliche sind die Geschichten, die Piotr uns erzählt, vom Nazi-Terror, aber auch von Zivilcourage in der Bevölkerung. Er übergeht nicht die polnischen Kollaborateure und deren Ermordung durch den polnischen Untergrund. Immer, wenn es zu bedrückend wird, schiebt er eine Geschichte ein, die uns wieder an die Menschlichkeit glauben lässt. Die vom Fahrer einer Schweinefarm z.B., der seinen großen Hund darauf abrichtete, auf ein Zeichen zu bellen und zu toben, immer dann, wenn er unter den Abfällen versteckte Kindern aus dem Ghetto schmuggelte und so die Wachen von allzu gründlichen Kontrollen abhielt.

An einer stark befahrenen Durchgangsstraße zeigt Piotr uns ein Foto, aufgenommen nach der Zerstörung des Ghettos. Das Einzige, was aus dem Schutt ragt, sind verbogene Eisenträger, von den Häusern ist nichts mehr zu erkennen. Wir sehen im Hintergrund die selbe Kirche, die hinter der modernen Bebauung hervorschaut und schweigen.

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Vorm POLIN steht das eindrückliche, schwarze Denkmal, vor dem Willy Brandt seinen Kniefall tat, gebaut mit Nazi-Geld, da die Steine – gedacht für ein monumentales Hitler-Denkmal – bestellt und bezahlt, aber durch die Wirren des Kriegsendes nicht geliefert wurden. Nach Ende des Krieges stolperte man in Polen über die Rechnung und hielt es für gut und richtig, diese Steine für ein Denkmal der Nazi-Opfer anzufordern.

Vor diesem Denkmal entlässt uns Piotr mit Hinweisen zur Heimfahrt. Die brauche ich nicht, denn mein nächster Schritt führt mich zielstrebig zum Museumscafé. Ich muss mit Schamesröte im Gesicht gestehen, dass dieser warme Raum und ein heißes Getränk sich in der letzten halben Stunde oft in meine Gedanken gedrängt haben. Ganz besonders in dem zugigen Torbogen des Hauses von Herrn Zamenhof, dem Erfinder der Esperanto-Sprache. Eine Weltsprache nicht auf der lateinischen, sondern der polnischen Grammatik (7 Fälle!) zu basieren, zeugt für mich mehr von patriotischem Stolz als von didaktischer Weitsicht.

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Zwei Stunden hatte ich für das Museum eingeplant, (ohne das Café, also bitte!), zwei Tage wären sicher nicht zu viel. Es beginnt mit alten Karten und den Wegen der ersten jüdischen Händler im Mittelalter. Diese Händler sind auch so etwas wie frühe Reiseblogger und halten für immer z.B. das vernichtende Urteil fest, dass Schleswig zwar eine schöne Stadt sei, die Leute aber fürchterlich falsch singen würden. Der historische Teil bis 1900 zieht sich um den Nachbau einer hölzerne Synagoge des 17. Jahrhunderts. Im Eingangsbereich kann man schon den zum Teil offenen Dachstuhl und darin die Konstruktionsweise bewundern, in der Ausstellung eine Etage tiefer den ausgemalten Innenraum. Warum und vor allen Dingen wo Löwe und Einhorn tanzen? kämpfen?, wird aber nicht erklärt.

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Natürlich weiß ich, wohin die Ausstellung letztendlich führt. Aber vor diesen Räumen bekomme ich zu sehen, was mir die Jewish Ghetto Tour nicht zeigen konnte: eine Straße aus dem Ghetto der 1920er Jahre.

Das Ausstellungskonzept ändert sich mit Beginn des Nazi-Terrors. Statt großer, offener Räume wird man labyrinthartig durch schmale Gänge geführt, die Fotos sehr nahe, oft zu nahe. Selbst mir kommt kurz der Gedanke, wie ich dieser Situation entkommen, wie ich wohl wieder aus diesem Bereich herausfinden werde. Natürlich ist es bei mir ein „wie“, kein „ob“ …

Es ist dunkel, als ich das Museum verlasse. Der Glasbau liegt erleuchtet. Seine Architektur sei Sinnbild des geteilten Meeres, Moses, der den Weg frei macht für sein Volk. Die großen Glasflächen mit ihren Strukturen erzeugen auf den gewölbten Innenflächen wirklich den Eindruck, man befinde sich im Wasser.

Nach diesem wirklich sehr intensiven Tag setze ich noch einen letzten Spickzettel ein, die Karte des Hotels. Natürlich mit der korrekte Adresse.

 

 

 

Vampires killing kit

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Geschichte kann ja gelegentlich etwas trocken sein, deshalb versucht Jakob von der Altstadtführung es mit lebensnahen Analogien. Die polnisch-litauische Union? Wir waren wie Shampoo und Conditioner 2in1… Deren Krieg gegen die deutschen Ordensritter? Was macht ihr, wenn der Klassenraudi euch das Pausenbrot klaut? Ihr tut euch mit euren Freunden zusammen und verhaut ihn. In diesem Stil geht es durch Warschaus Altstadt, die natürlich eine Neustadt ist. Detailgetreu in den 1950ern wieder aufgebaut und das so überzeugend, dass selbst die UNESCO nichts zu meckern hat. Es geht durch enge Gässchen mit bunt bemalten Häusern und herrlich altmodischen Geschäften, in denen man sehr nützliche Dinge wie ein „Vampires killing kit“ erwerben kann.

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Immer wieder lässt Jakob Anekdoten einfließen und lästert über seine Landesgenossen. Ich erfahre, warum der 3. Mai und nicht der 11. November der Nationalfeiertag ist. Der Hauptgrund liegt nicht in der Unterzeichung der ersten polnischen Verfassung von 1791 an diesem Tag. Viel wichtiger seien zwei andere Fakten: erstens lässt es sich im Mai viel netter „nationalfeiertagen“ als im November. Zweitens ist der 1. Mai auch ein Feiertag, so dass man mit dem ein oder anderen Brückentag und dem nahen Wochenende vor oder nach dem Nationalfeiertag locker auf 10 freie Tage kommen kann.

Ich erhalte wichtige Hinweise für preiswerte Verpflegung. Die so genannten Milchküchen seien ein Relikt aus der kommunistischen Ära. Zwar sei das Essen unglaublich günstig, aber auch so echt authentisch polnisch, dass selbst die Polen es kaum noch essen wollten. Kuttelsuppe und Nudeln in Entenblut wären schon recht speziell. Hinzu kommen die genauso authentischen Bedienungen, die in alter kommunistischer Tradition nicht dafür bezahlt werden zu lächeln und jeden Kunden eigentlich als eine freche Zumutung betrachten. Falls uns die Preise dennoch zu hoch erscheinen, gäbe es noch eine kostengünstigere Alternative, erklärt Jakob vor dem Standesamt neben der Kathedrale. Man warte mit einem Seil auf ein frisch getrautes Paar und spanne dann das Seil über den Weg. Diese Sperre sollte man nur frei geben, wenn man mit Süßigkeiten, noch besser mit Wodka, dazu überredet wird. Aufgabe der Freunde des Bräutigams sei es, für diesen Fall genügend Wodka vorrätig zu haben. Wodka sei auch der Grund, warum die offiziellen Hochzeitsfotos am Ende der malerischen Gasse neben dem Standesamt immer erst Dienstag geschossen werden. Samstag und Sonntag wird durchgefeiert, Montag der Schädel gelüftet und alle Reste von Samstag und Sonntag aufgegessen – und schon ist es Dienstag.

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Wir schlendern im eisigen Wind die Weichsel entlang. Jakob findet das Wetter gut. Im Sommer würden seine Gruppen immer trödeln, im Winter bewege sich jeder freiwillig zügig und schnell. Vorbei am Geburtshaus von Marie Curie, die nicht nur einen, nein zwei Nobelpreise gewonnen hat. Nicht nur das, auch ihr Mann hat einen und mit Kindern und Kindeskindern kommt die Familie auf insgesamt sechs Nobelpreise, was sicherlich ein weltweiter Rekord ist.

Gleich gegenüber von Curie-Haus kommt eine Döner-Kneipe und eine weitere spitzzüngige Tirade Jakobs. Nach den letzten rechtsnationalen Demonstrationen mit „Ausländer-raus“- und „Polen den Polen“-Parolen haben die durchgefrorenen Organisatoren sich in der nächsten Döner-Kneipe versammelt, um ihre Demonstration zu feiern.

Natürlich fehlen bei all dem nicht die sanften und dunklen Töne, z. B. wenn es um den Warschauer Aufstand und das Ghetto geht.

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Gegen Ende der Tour erreichen wir noch einmal die Stadtmauern und dort, vor den Toren der Warschauer Altstadt, entlässt uns Jakob nach zwei sehr vergnüglichen und informativen Stunden.

In meinem naiven Gemüt habe ich geplant, als Belohnung für die Pflastertreterei im Marriott in die Sky-Bar hochzufahren und mir dort ein kleines Mittagessen und einen großartigen Blick über Warschau zu gönnen. Wird so auf einer Top Ten-Liste für Warschau vorgeschlagen. Nun liegen Altstadt und Zentrum im Falle Warschaus nicht gerade eng beieinander, aber Bus fahren habe ich heute Morgen schon geübt. Busfahrschein am Automaten kaufen auch. Zum Glück muss man die Kreditkarte nur an den Leser halten, den PIN einzutippen, das hätten meine durchgefrorenen Finger wahrscheinlich nicht geschafft. Eine freundliche Frage und eine nette Antwort weiter weiß ich auch, welcher Bus mich zum Hauptbahnhof und zum Marriott bringt. Dem jungen Mann an der Hoteltür ist es dann unheimlich peinlich. Er muss mich leider abweisen. Die Skybar macht nämlich erst abends auf. Das hätten sie zu ihren Top Ten ruhig dazu schreiben können. Also gibt es keinen Blick über Warschau, bei dem neblig trüben Wetter wahrscheinlich kein großer Verlust.

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Ich schlendere noch durch das moderne Zentrum mit dem schrecklichen architektonischen Fehlgriff des Kulturpalastes, offiziell ein Freundschaftsgeschenk Stalins, wenn auch von Polen erbaut und bezahlt – wenn man solche Freunde hat, braucht man wahrlich keine Feinde – und komme zu dem Punkt, an dem meine eiskalten Füße nicht mehr weiter wollen. Leider sehe ich um mich herum nur internationale Fastfood-Ketten, nichts, was mich zu einer Pause reizen würde.

Da fällt mir doch wieder unser netter Kellner und sein Sellerieschnitzel ein.

Rote Bete-Eis brauche ich nicht so dringend, mir ist kalt genug.

Kurz darauf bringt mich die 522 meinem Ziel näher und meine Füße tauen langsam wieder auf.

Ich weiß noch nicht so ganz genau, was ich morgen unternehmen werde, aber eines ist sicher: die vorsichtshalber eingepackte Skiunterwäsche wird dabei sein!

 

 

Hyperaktive Tannenbäume

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Manchmal treffen wir am Flughafen den ein oder anderen Kollegen Monsieurs, der zum selben Konferenzhotel will und wir organisieren ein gemeinsames Taxi. In Warschau sind es fünf Kollegen, alle mit dem selben Ziel. Am Taxistand findet man uns tatsächlich einen Achtsitzer und wir spielen Tetris mit Gepäck und Passagieren. Sieben Menschen mit dem selben Ziel – und wer gibt dem Taxifahrer dieses Ziel an? Natürlich der, der die falsche Adresse ausgedruckt hat. Es folgt ein leichtes Räuspern, gefolgt von Zögern, weil der Taxifahrer bestätigt: Ja, ja, an der Adresse gibt es dieses Hotel, die zweite Straße kenne er nicht. Wir fahren erst mal Richtung Innenstadt Warschau, weiteres Gemurmel, da ich mir ganz sicher bin, dass das Hotel in einem der Außenbezirke liegt. Nein, nein, meint der Kollege, direkt im Zentrum, gleich neben der Altstadt, sehr zentral. Das kann nicht sein und es folgt ein allgemeines Geraschel, als Hotelbuchungen und Wegbeschreibungen herausgekramt werden, unterbrochen vom Handy des italienischen Kollegen, das – mit der richtigen Adresse gefüttert – immer wieder mit sinistra und destra dazwischen quäkt. Es stellt sich heraus, dass wir  sieben Menschen in ein und das selbe Hotel gebucht sind und sechs von uns in Richtung Außenbezirke fahren wollen. Der Taxifahrer, der wohl die beginnende Meuterei in seinem Rücken spürt, fährt rechts heran und wartet erst mal ab (Wahrscheinlich wird er noch wochenlang in seiner Kneipe von dieser Fahrt erzählen). Wir sechs treffen eine Entscheidung. Ob man das nun Schwarmintelligenz oder Demokratie nennen will, ist mir völlig egal, jedenfalls bringt sie uns zum gebuchten Hotel an der richtigen Adresse, wo auch – oh Wunder! – für den ersten Kollegen ein Zimmer reserviert ist.

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Das alles hat natürlich eine Weile gedauert und so ist es früher Nachmittag, bis wir auf unserem Zimmer sind. Der offizielle Empfang ist um 20 Uhr, die Stunden bis dahin werden wir nicht durchhalten. Als „Mittagessen“ gab es nur den mageren Keksriegel, den LOT als „kleinen Snack“ angeboten hat. Also führt uns unser Weg zum Hotel-Restaurant, wo uns ein Kellner begeistert erklärt, dass sie „Junge Polnische Küche“ anbieten und mit der gleichen Begeisterung ein Menü zusammenstellt: Pferdefleisch-Carpaccio, Sellerieschnitzel und Rote-Bete-Eis. Wir können unumwunden zugeben, dass das wirklich sehr jung und innovativ klingt, uns aber trotzdem nur nach einer Kleinigkeit für zwischendurch zumute ist. Der süßsauer eingelegte Hering mit Pfifferlingen und Sauerrahm ist uns durchaus innovativ genug.

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Um 18 Uhr wird, wer vor dem Essen ein bisschen „Kultur“ erleben möchte, abgeholt zu einem Abendspaziergang. Die Anführungszeichen sind berechtigt. Das Wilanow-Schloss, Sommer-Residenz der polnischen Könige, und sein Garten sind ganz unbestritten Kultur ohne Anführungszeichen. Nur, das, was die Attraktion sein soll, gehört eher in die Sparte: „Ääähm, ja, also, sehr apart, ja, doch, ausgesprochen interessant…“

 

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Die Schlossgärten sind nämlich illuminiert, was nicht nur für die Augen eine Herausforderung ist, auch die Ohren gekommen ihren Teil ab. Wir schreiten zu Walzerklängen durch blinkende Bogengänge, bewundern zum Nussknacker die „Orangebäume“ und nähern uns  – noch ahnungslos – der Terrasse mit dem Ausblick auf die Blumenrabatte eine Etage tiefer.

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Dass dort eine illuminierte Brunnenillusion steht, mit goldenen und silbernen Seepferden, das hatten wir schon gesehen.  Barocke Musik setzt ein und die Rabatte leuchten auf. Vielleicht bin ich noch nicht so richtig in Vor-Weihnachtsstimmung, aber für mich sieht es aus wie ein Orientteppich auf Speed. Mal blinken die roten Muster, mal die blauen, dann die grünen.

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Am Rande des Teppichs stehen Dutzende von LED-Bäumchen, passend zu den Seepferden in Gold und Silber aufflimmernd. Das alles ist schon ein bisschen viel, aber dann bricht Verdi los. Die Geige geigen, die Crescendos crescendieren und die LEDs laufen Amok. Die Bäumchen begnügen sich nicht mehr mit statischem Flimmern, sie erleuchten und verblassen hintereinander in so rascher Reihenfolge, dass der Eindruck einer Bewegung entsteht, einer schlecht gezeichneten, ruckeligen Animation.

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Hyperaktive Tannenbäume vor durchdrehenden Orientteppichen, ja, das ist der wahre Geist der Vorweihnachtszeit!

 

PS: Was ich jetzt gar nicht erwähnt habe, sind die mehr oder weniger geschmackvollen Riesenleuchtkörper vor diesen Attraktionen, die in Großbuchstaben den Namen der Sponsoren tragen: einer Firma, die Sckoko-Nuss-Creme herstellt und ebenso jene schrecklichen weißen Kokoskugeln, die wie Pappdeckel schmecken. Während die LED-Schoko-Creme-Gläser eher unbeholfen wirken, sind die weißen Kokoskugeln erschreckend naturgetreu. Das muss ich – wenn auch widerwillig – fairerweise zugeben.