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Abkürzungen

Ein wunderschön angerichtetes Frühstück empfängt uns, aber wir sind etwas abgelenkt durch die Diskussionen um den dräuenden Aufstieg. Eine Option, die ganz faule, die mit dem Fahrrad-Taxi, wurde schon aussortiert: er könne uns nicht alle mitnehmen, sagt der Unternehmer. Wir überlegen – nur ganz kurz, ehrlich – in die alten Rollenklischees von „Frauen und Kinder zuerst“ zu verfallen, aber schließlich siegt der Teamgeist. Wir tasten uns an die andere Option heran, die stark befahrene, aber eben auch nicht so steile Bundesstraße, als unsere Gastgeberin den Kaffee hereinbringt. „Sie kennen nicht zufällig eine Abkürzung hoch zur Vennbahntrasse?“, frage ich im Scherz. „Nein“, sagt sie und geht. Kommt dann mit „Aber eine Alternative!“ und einer Wanderkarte wieder und zeigt uns eine andere Strecke auf. Kürzer ist sie wirklich nicht, aber deutlich weniger steil.

Wir radeln aus Monschau heraus und nehmen alternativ direkt hinter der Rurbrücke den Rur-Ufer-Radweg unter die Räder. Der geht langsam und stetig die Höhenmeter an, umgeben von schönster Auenlandschaft und der Begleitmusik der jungen Rur. Auf halbem Weg begegnet uns der „Abt“ vom Kloster Reichenstein, in Edelrost und mit hohem pädagogischem Anspruch. Damit wir alle hören können, was er uns zu erzählen hat, muss Monsieur zur Stromerzeugung mit der Handkurbel so lange drehen, bis die kleine Diode grün leuchtet. Merke: man muss sich schon etwas anstrengen, wenn man etwas lernen will. Oder gute Freunde haben, die sich für einen anstrengen…

So hübsch der Uferweg auch zu radeln ist, wir wollen ja auf die Vennbahntrasse. Da vorne, an der Straße, da sollten wir die Abkürzung zur Trasse finden. Was wir finden, sind rotweiße Absperrungen und ein genauso rotweißes „Gesperrt“-Schild auf der rechten Fahrbahn. Links, im Wald, geht ein steiler, steiniger Pfad hoch. Zwei junge Mountainbiker gehen ihn an, steigen aber nach den ersten Metern ab. Hmmm.

Dann kommt von Monsieur so ein „Lass uns doch einfach mal…“. Dieses Mal klappt es. Wir warten, bis die Bauarbeiter hinter der nächsten Kurve verschwunden sind, lassen die zwei großen Baustellenfahrzeuge passieren und strampeln dann schnell und klammheimlich mit unseren Rädern die wenigen Meter Straße hoch, bis die Trasse linkerhand auftaucht.

Dadurch haben wir nicht nur den steilen Anstieg, sondern auch ein paar Kilometer Strecke abgekürzt, einen kurzen Teil des Radweges nicht erfahren, aber damit können wir gut leben.

Kalterherberge wird seinem Namen gerecht, aber noch bleibt das Wetter trocken. Sehr zur Freude der französischsprachigen Schulklassen, die mit ihren Draisinen deutlich langsamer unterwegs sind als wir, mit viel Gelächter und einem vielfachen „Bonjour, madame, bonjour, monsieur!“.

Holzliegen stehen einladend am Wegrand. Unser Picknick ist diesmal selbst gebastelt, der Blick über die weite Landschaft umwerfend. Hochmoore strahlen karge Ruhe aus, dazwischen blaue Seen. Wir kommen aus dunklen Nadelwäldern in parkähnliche Wiesenlandschaften. Das ist so schön, dass ich glatt vergessen habe, all das zu fotografieren.

Alte Bahnhöfe verströmen einen morbiden Charme. Kleine Dörfer werden von der Streckenführung meist nur berührt. Das ist Kaffee-Pausen-technisch etwas ungeschickt, aber besser für den Seelenfrieden der Ardenner. Die scheuen nämlich erst etwas besorgt, als an einem Ortsausgang Werbung für Ardenner Schinken und Ardenner Speck auftaucht, aber wir können sie beruhigen.

St. Vith, unser Etappenziel, hat es schwer nach Monschau. Erst von der Wehrmacht zerstört, dann von den Alliierten bombardiert und beim Rückzug der Wehrmacht nochmals beschossen, standen am Ende nur noch eine Handvoll Gebäude. Die moderne Stadt hat leider nicht sehr viel Charme und Ausstrahlung.

Was sie hat, ist ein wundervoll gelegenes Hotel, dessen Restaurant ausgerechnet heute Ruhetag hat.

Deshalb gönnen wir uns im besten am Dienstag geöffneten Restaurant ein ausgiebiges Menü. Das Rosmarin-Honig-Parfait ist ein würdiger Abschluss des Tages.

Es kommt dann doch noch ein etwas anderer Abschluss. Auf dem Heimweg zum Hotel kommt uns auf der Hauptstraße ein großer Van entgegen, deshalb schießen wir schnell links in die Seitenstraße, gegen die Einbahnstraße, aber in Belgien hängt da oft ein Schild „Fahrräder erlaubt“.

Hier offensichtlich nicht, denn der große Van erwartet uns am Ende der Straße, mit blinkendem Blaulicht. Wir sollten doch bitte alle mal absteigen, wo wir denn herkämen?

Aus Deutschland…

Ach, und da sei es erlaubt gegen die Einbahn zu fahren?

Wir geben zerknirscht zu, dass wir etwas falsch gemacht haben.

Die beiden jungen Polizisten, die sich ganz offensichtlich köstlich amüsieren, verwarnen uns ernst, bitte nicht mehr falsch herum durch die Einbahnstraße zu fahren. „Selbstverständlich“, gelobe ich, „wir sind ja ab morgen nicht mehr in St. Vith.“ – „Und anderswo auch nicht, Madame!“ kommt es streng.

Versprochen!

Schwellenangst

Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt und – wie der uralte chinesische Weise sagt – jede Fahrradtour mit dem ersten Tritt.

Der bringt uns über recht verkehrsreiche Straßen vom Aachener Hauptbahnhof zum Bahnhof Rothe Erde, Aachens Industriebahnhof und zum eigentlichen Startpunkt des Vennbahnradwegs. Auf der Trasse, auf der einst Kohle aus dem Norden Aachens zur Schwerindustrie in Luxemburg und Lothringen transportiert wurde, rollen jetzt Fahrräder. Drei Länder werden wir durchqueren, zum Teil mit sehr skurrilen Konstrukten, 140 Kilometer werden es mit den Abstechern am Ende sein und insgesamt mindestens 1011 Höhenmeter werden uns ins Strampeln bringen. Die offizielle Ostbelgien Seite zur Vennbahn verkündet zwar etwas von nur 2 % Steigung, aber das „durchschnittlich“ davor ist verdächtig.

Kornelimünster verlockt zum ersten Umweg, wir rauschen hinunter ins Tal – und das bringt die durchschnittlich 2% schon ganz schön durcheinander – später, bei der Rückfahrt zur Trasse.

Die ehemalige Reichsabtei zeigt sich ebenso beeindruckend wie abweisend. Zweimal umrunden wir den Komplex, bevor wir die versteckte Tür zum Münster entdecken. Das Kunsthaus Nordrhein-Westfalen Kornelimünster hatte uns schon vorher erzählt, dass der Eintritt zwar frei sei, aber eben nicht montags.

Dafür gibt es dann eine Kaffeepause im Café Paris, das in der Nähe vom Café Napoleon liegt, in der Nähe der Napoleonstraße im Schatten des Napoleonbergs. Keine Ahnung, was der Herr hier angestellt hat, dass er so viel Aufmerksamkeit bekam.

Hinter Raeren wird es dann idyllisch. Der Bahnhof lässt kurzfristig Schwellenangst aufkommen mit seinen hochgestapelten alten Eisenbahnschwellen. Durch die alten Waggons weht ein Hauch von Nostalgie.

Dann kommt für mich der Bonus der Tour. Sport, nunja, ist ja an sich nicht so mein Ding. Aber kilometerlang ohne große Höhenunterschiede zu radeln, das ist richtig meditativ, wenn ich erstmal meinen Rhythmus gefunden habe. Dazu kommt dieser kleine Wohlfühlfaktor des Abenteuers, meine bequeme Komfortzone verlassen zu haben, für ein paar Tage aus den Radtaschen zu leben. Nomaden-Dasein – allerdings mit einem Augenzwinkern und in der Luxus-Version, denn natürlich steuern wir jeden Abend ein angenehmes Hotel an und mit dem Handy sind wir für Notfälle bequem gerüstet. Trotzdem finde ich diesen Aspekt des Unterwegsseins schön: wir haben uns ein Ziel gesetzt und das müssen wir erreichen. Sonst gibt es nix zu essen und mit warm duschen ist auch nichts!

Lichte Wälder gehen über in weite Wiesenlandschaften, der Ginster leuchtet goldgelb. Ins Grün getupfte Pferdeherden wechseln ab mit Weiden voller wuscheliger Schafe, es ist schon sehr idyllisch. Wir kreuzen von Deutschland nach Belgien und wieder zurück. Stellenweise fahren wir auf belgischem Staatsgebiet durch Deutschland, denn Belgien hatte nach dem Zweiten Weltkrieg diese Eisenbahnstrecke plus einen breiten Streifen rechts und links für sich reserviert. Dass wir wechseln, merken wir an zwei Dingen: auf belgischer Seite stehen Schilder zum RAVel 47 und die Aufforderung, als Radfahrer, Fußgänger oder Reiter einander rücksichtsvoll zu begegnen. Auf der deutschen Seite steht nur lapidar: Benutzung der Trasse für Reiter verboten. Und natürlich daran:

RAVel steht für Réseau Autonome de Voies Lentes, das Netz der „langsamen Wege“, umgewidmeter Bahntrassen oder Treidelpfade, mit der die Wallonie ihr Wanderweg-Netz ausbaut. Aber irgendwer hat es zu gut gemeint: alle 500 Meter werden wir darüber informiert, dass wir z.B. gerade RAVel 47, km 32,5 passieren. Das heißt, etwa alle zwei Minuten wird uns mitgeteilt, wo wir uns gerade befinden – und das auf einer Bahntrasse, von der es kaum Möglichkeiten abzuweichen gibt. Irgendwie scheint die wallonische Region ihren Touristen nicht sehr viel Orientierungssinn zuzutrauen.

Unser Hotel in Aachen hat uns sehr großzügige Lunchpakete eingepackt, um die wir uns bei einer ausgiebigen Pause kümmern. Das gibt uns Kraft bis zum Bahnhof Monschau durchzuhalten. Der liegt oben auf den Eifelhöhen, unsere Herberge für heute Nacht aber tief unten im Tal.

Da kommt uns ein äußerst drahtig wirkender ältere Radfahrer entgegen. Wütend wie ein Rohrspatz schimpft er über die unmögliche Streckenführung. Fünfzehn Prozent Steigung, so steil bergauf, das sei ja fast unmöglich zu schaffen – und das Ganze auf Kopfsteinpflaster – absolut unmöglich. Ob wir wüssten, wo denn nun diese verfluchte Vennbahntrasse zu finden sei. Wir zeigen nur stumm hinter uns und schauen uns ein bisschen betrippst an. Das soll morgen unser Start in den Tag sein? Fünfzehn Prozent Steigung, auf Kopfsteinpflaster? Und wenn wir tatsächlich oben ankommen sollten, sind dann nicht die Batterien schon leer, bevor wir überhaupt die 50 Kilometer bis St. Vith begonnen haben?

Wir beschließen weise, diese Angst erstmal zu verdrängen und sausen – sehr vorsichtig – die schon etwas furchteinflößend steilen Gässchen hinunter bis zu unserer kleinen Bleibe im Tal. Ein puppenstubenniedliches Fachwerkhaus aus dem 17. Jahrhundert mit wunderhübschen kleinen Zimmerchen – und einer entsprechend steilen und engen Treppe. Zwei Fahrradtaschen gleichzeitig hochzutragen, das ist nicht möglich. Die Zimmer sind schnell aufgeteilt – gerade genug für unsere Gruppe, dann begleitet uns die Gastgeberin zu unserem Zimmer und zeigt auf zwei Dinge. Das eine ist das grüne Notausgangschild über unserer Tür und das andere ein seltsamer, ebenso grüner Kasten unter dem Türgriff. Der zweite Stock brauche den gesetzlich vorgeschriebenen Notausgang und das sei – ein weiteres grünes Schild, dezent hinter einer Gardine halb versteckt – unser niedliches Sprossenfenster hier. Sollte nun also heute Nacht der Feueralarm losheulen, dürften/müssten/sollten wildfremde Menschen – nunja, in diesem Fall eher unsere Freunde – mit dem grünen Kastending unsere Tür aufbrechen, an unserem Bett vorbeistürzen, unser Fensterchen aufreißen, hinausklettern und darauf hoffen, dass die Monschauer Feuerwehr sie unten erwartet. „Die müssen aber schnell sein!“, meine ich. „Sind sie“, nickt unsere Gastgeberin.

Dann bittet sie uns, den grünen Kasten nicht auszuprobieren – höllischer Lärm wäre die Folge -, händigt uns aber vorsichtshalber doch noch den Schlüssel aus, mit dem der Höllenlärm wieder abgestellt werden kann.

Monschaus Café Horchem bietet eine Terrasse direkt an der Rur, auf der ein junger Kellner uns zwei Aperol Spritz direkt vor unsere Füße kippt. Es folgen ein paar Minuten mit Aufräumen, Entschuldigungen und Witzeleien zur Glatteisgefahr bis zwei neue Aperol vor uns stehen. Das ist alle nichts verglichen mit der Aufregung unseres ersten Essens im Horchem, auf einer Eifelwanderung, vor über 40 Jahren. Da mussten wir beim Abendessen beobachten, wie zwei dunkle Gestalten eine Leiche übers Brückengeländer hievten. Wir sprangen entsetzt auf, riefen dem Kellner zu, er solle die Polizei rufen. Der konnte uns dann beruhigen, ja, ja, er wüsste schon, dass da draußen ein „Tatort“ gedreht würde. Als die Leiche dann noch ein zweites und drittes Mal über das Geländer verschwand, konnten auch wir das gelassen hinnehmen.

Wir schlendern durch Monschau wunderschöne Gässchen, bewundern die Vielfältigkeit der Fachwerkmuster und die zur Schau gestellte Pracht der Tuchmacher-Häuser. Auf einem der Plätze genießen wir zum Abendessen die letzten Sonnenstrahlen und machen uns dann an den Aufstieg zu unserem Fachwerkhäuschen – im Hinterkopf die unterschwellige Angst: Schaffen wir das morgen früh?

Kohelet 3,1

Alles hat seine Zeit, sagt der Prophet, ein Jegliches hat seine Stunde.

Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts des letzten Jahrtausends – ihr erinnert euch? Als die Ritter noch auf Dinosauriern ritten? – beschlossen Monsieurs Bruder und ich, es sei die Zeit, eine Jugendgruppe zu gründen. Wir durften einen Kellerraum im Pfarrhaus einrichten und diskutierten dort jeden Freitagabend wortwörtlich über Gott und die Welt. Bis der Pfarrer irgendwann meinte, er könne sich dabei nicht so recht aufs Predigt Schreiben konzentrieren und uns den Schlüssel zum Gemeindesaal anvertraute. Dort fanden nicht nur Diskussionen, sondern auch denkwürdige Partys statt und die Planungen legendärer Zeltlager.

Dann kamen irgendwann die Schulabschlüsse, die Ausbildungsgänge zerstreuten uns in alle Winde, wir verloren einander aus den Augen. Die Zeit unserer Gruppe war vorbei.

So schien es, bis vor etwa 10 Jahren eine E-Mail eintrudelte mit einem „Wie wäre es…?“

Auf dem Parkplatz eines Restaurants ging ich eher zögerlich auf eine Gruppe Fremder zu. Einer grinste mich an, ein anderer öffnete weit die Arme – der Rest des Abends war Lachen, Erzählen, Erinnern und mehr Lachen.

Seitdem kommen wir wieder regelmäßig zusammen, diesmal in einem alten Bauernhaus in der Nähe vom Nürburgring. Nürburgring, das ist fast Schneeeifel und Schneeeifel, das ist fast Aachen und Aachen, da gibt es einen tollen Radwanderweg.

Deshalb treffen wir dort Sonntag, nach einem Wochenende wieder voller Lachen, Erzählen und Erinnern, Freunde und Freundinnen aus einem anderen Lebensabschnitt zum Radwandern.

Aber zuerst streifen wir durch die Stadt. Aix-la-Chapelle nennen die Franzosen sie und behaupten, Charlemagne wäre ein großer französischer Kaiser gewesen. Wir wissen das – natürlich – besser und schauen uns den Dom an, den Karl der Große in Aachen bauen ließ. Die Architektur ist so umwerfend, dass selbst die goldgrundigen Mosaiken des 19. Jahrhunderts nicht dagegen ankommen, aber irgendetwas fehlt mir. „Wo ist denn der Zugang zur Krypta?“, frage ich einen der zahlreichen Domschweizer, die aufmerksam für Ordnung sorgen. „Krypta ham wa nich“, kommt zurück, „aber nen Domkeller, 200 Meter weiter rechts, Essen kann ich nur empfehlen.“

Morgen geht es also los. Allerdings werde ich nicht meinen Laptop zusammenrollen und in der Fahrradtasche verstauen.

Alles hat seine Zeit, sagt der Prophet, ein Jegliches hat seine Stunde. Die für Blogeinträge kommt dann erst nächstes Wochenende.

Carl Ludwig mit Likörchen

Natürlich sei es eine Liebesheirat gewesen, sagt „Charlotte“ mit verzücktem Lächeln. Ihr Carl Ludwig sei aber auch ein ganz besonderer Mensch. Vom Bäckergesellen zum Königlich Preußischen Oberhüttenbauinspektor, das solle man sich erst einmal vorstellen, solch einen Werdegang. Leider sei das aber auch der Grund, weswegen ihr werter Herr Gemahl, Carl Ludwig Althans, uns nicht selbst empfangen könne, hier im Herzstück seines Schaffens, er sei auf Inspektionsreise zu den Siegerländischen Eisenhütten und Gießereien.

Wir sind auf einer Kostümführung in der Sayner Hütte, allerdings nicht zu den trockenen Fakten wie Baujahr, jährlicher Ausstoß oder Spannweite der beeindruckenden Werkhalle. Uns führt – in prachtvoller bodenlanger Robe – „Charlotte“, die werte Gemahlin des Gründers, der es natürlich mehr um den Menschen hinter der Leistung geht.

Welcher aber leider verhindert ist, weshalb sie uns als kleine Entschädigung erstmal ein Likörchen kredenzt. Nicht ohne vorher seufzend über das Personal zu klagen, das doch tatsächlich den letzten Rest Pfirsichlikör ausgesüffelt hätte, weshalb sie uns nun leider den Traubenlikör kredenzen müsse.

Eigentlich müsste sie es ja entlassen, das Dienstmädchen, aber wir wüssten ja selber, wie schwierig es sei, gutes Personal zu bekommen. Wir nicken verständnisvoll.  

„Charlotte“ führt uns über den Hof zur Gießerei von 1830, Industriearchitektur vom Feinsten. In der lichten Halle bekommen wir erst den erstaunlichen Werdegang eines einfachen Bäckerjungen dargelegt, der über Stipendien Mathematik und Bergbauwesen studieren konnte und eine rasante Karriere hinlegte. Der, ein verzückter Augenaufschlag „Charlottes“, solch eine Persönlichkeit sei, dass er vor Antritt der Stelle in Bendorf-Sayn seinem Arbeitgeber eine sechsmonatige Studienreise durch Europas Industriegebiete abringen konnte. Auf der er fleißig skizzierte und Ideen sammelte, die er später in seinem eigenen Werk umsetzte in neue Erfindungen und Maschinen. Hier kommt der erste Missklang, denn ihr Carl Ludwig habe diese Erfindungen immer stolz im „Technischen Journal“ – dass wir ja sicher auch lesen würden, selbstverständlich, nicken wir, jeden Morgen, zum Frühstück – veröffentlicht. Leider ohne sie vorher patentieren zu lassen, weshalb andere, weniger ehrenhafte Menschen… „Carl Ludwig, habe ich immer gesagt, Carl Ludwig, du musst Patente anmelden!“ Wir können uns die Diskussionen am Abendbrottisch lebhaft vorstellen.

Aber bald ist wieder alles verliebtes Entzücken, denn ihr Carl Ludwig ist auch Sozialreformer. Schafft mit der luftigen Architektur einen lichterfüllten Arbeitsplatz, lässt in einer eigenen Werksschule Nachwuchs heranziehen und Fachkräfte ausbilden.

Natürlich ist nicht alles nur eitel Sonnenschein. Ein während der Führung immer mal wieder anspringendes Tondokument erfüllt den Raum mit dem ohrenbetäubenden Tosen der Hochöfen. Auch die Tatsache, dass oben, auf dem hohen Hochofen, mechanische Hämmer Kalkgestein für den Schmelzprozess zerschlagen, lässt „Charlotte“ schaudern. Auf der ungesicherten Plattform sitzen 5- bis 6-jährige Kinder, denn nur ihre Hände sind klein und flink genug, um zwischen den zwölf Mal pro Minute herunterfallenden Hämmern die Gesteinsbrocken zu bewegen.

Zum Abschluss bringt „Charlotte“ uns ins Magazin, sozusagen der Katalog der Sayner Hütte. Dass nur Sayn mit einer acht Meter tiefen Gießgrube ­– natürlich eine Erfindung ihres Carl Ludwigs – in der Lage war, ebenso lange Kanonenrohre zu gießen, erfüllt sie mit Stolz, dass der preußische König die Sayner Kanonenrohre denen seiner eigenen Berliner Gießerei vorzog, mit diebischer Freude.

Ein bisschen zynisch finde ich dann schon, dass die Sayner Hütte neben Kanonenrohren auch filigranen Trauerschmuck in schwarzem Gusseisen herstellte. Beides genoss in Preußen, das ja praktisch ständig irgendwo mit irgendwem im Krieg war, sicher große Nachfrage.

Mit einem letzten verliebten Augenaufschlag zeigt uns „Charlotte“ noch eine andere Facette ihres Carl Ludwigs, der eben auch Bolleröfen gießen ließ, den Schinkel seine Entwürfe zu Wendeltreppen und Gartenstühlen umsetzen ließ und der das Leben der Hausfrauen am Herd einfacher machte mit so innovativen Haushaltsgeräten wie dem im Herd integrierbaren Waffeleisen oder dem Kaffeeröster.

Sie entlässt unsere sehr kleine Gruppe, wir sind zu fünft, Monsieur der einzige Mann, mit einem weiteren bezaubernden Lächeln: wir sollten uns ruhig umschauen, sicherlich würde uns doch das eine oder andere hochwertige Objekt gefallen – natürlich nur echt mit dem Stempel der Sayner Hütte.

Eine Viertelstunde später sehen wir sie, in Jeans und Turnschuhen, vor einer Dreißiger-Gruppe im Hof stehen und trockene Fakten zu „der letzte Trierer Kurfürst 1796“ weitergebend.

Kein verliebtes Lächeln weit und breit und ein Likörchen schon gar nicht.

Im Lande des doppelgeschweiften Löwen

Ja, ich weiß, das klingt jetzt recht exotisch, Richtung Südostasien oder zumindest Seidenstraße.

Deutlich fremdländischer jedenfalls als „Westerwald“. Ist aber der offizielle Titel dieser „E-Bike-Traumtour“ von und bis Hachenburg. Das Städtchen soll sehr schön sein, weiß Monsieur, allerdings springt zuerst so gar kein Funke über. Kein Wunder, parken wir doch am Bahnhof, an der Industriezone. Die liegt aber schnell hinter uns und schönste gelbgetupfte Wiesenlandschaften vor uns.

Das Kloster Marienstatt imponiert mit der weisen Entscheidung, den barocken Bauwillen nur an den Wohngebäuden auszutoben.

Was mir aber noch viel mehr zusagt, ist der Klostergarten mit seinen Heilkräutern, die Grünflächen mit den hineingetupften blühenden Apfelbäumen – und mein heimlicher Held des Tages (neben Monsieur natürlich). In geradezu philosophisch-stoischer Ruhe zieht ein Mähroboter seine Bahnen über die sehr großen Rasenflächen. Zieht und stoppt und wendet und mäht weiter, unbeirrt und unverzagt, wohl ahnend, dass er, kaum mit dem einen Teilstück fertig, am anderen Ende wieder anfangen kann. Ein kleiner tapferer Sisyphus der Gartenarbeit.  

Auf der alten Brücke kreuzen wir die Große Nister und ein paar steile Straßenkilometer bringen uns nach Limbach ins Tal der Kleinen Nister. Streithausen verdankt seinen Namen sicher einem uralten keltischen Ursprung, der nichts mit dem heutigen Wort … Jedenfalls können wir uns ohne Streit auf die Weiterfahrt einigen. Atzelgift gibt uns eine weitere Möglichkeit über Ortsnamen und ihre Bedeutung nachzudenken, bis wir ein paar Momente still im Ehrenhain innehalten. Kriegerdenkmäle ziehen mich an, die Zahl der Namen, oft aus ein und derselben Familie, die Tragödien und der unendliche Schmerz hinter den dürren Angaben berühren mich, auch wenn die meist sehr martialische oder kriegsverherrlichende Formsprache der Denkmäler mich eher abstößt. Hier trifft es mich unverhofft und sehr tief. Die Figuren stehen locker gruppiert auf einer Waldwiese am Bach. Zeitlos und doch – leider wieder – sehr aktuell zeigen sie das Leid aller: die wartende Frau, der traumatisierte Rückkehrer, Familien, die vergebens hoffen.

Der Weg führt uns weiter durch große Wälder und auf ein – verzeiht die Analogie – weiteres Schlachtfeld unserer Zeit. Wir fahren an langen, mehrere Meter hohen Holzstapeln vorbei, säuberlich aufgestapeltes Waldsterben, fein aufgeräumter Klimawandel. Wobei ich nicht weiß, was mich mehr belastet: die Hektar um Hektar verwüsteter, abgeholzter Fläche, auf der der eine oder andere Überlebende einsam seine Äste in den Himmel streckt oder das traurige Mahnmal der abgestorbenen Nadelholzwälder, die als graue tote Flächen im sanften Grün der austreibenden Laubwälder stehen.

Bad Marienberg hatten wir für die Mittagspause angedacht, aber nicht mit unseren Trödeleien gerechnet. Es ist also schon zu spät für die meisten Restaurants. Deshalb gönnen wir uns in einem typisch deutschen Spezialitätenrestaurant eine typisch deutsche Spezialität: „einmal Döner mit alles“.

Das gibt uns dann Kraft für den Rest der Tour. Wir kommen unbeschadet an der Schnapsbrennerei in Nistertal vorbei, aber dann ist Monsieur zu schnell mit dem Abbiegen. Ich habe den Wegweiser gesehen, aber darauf vertraut, dass Monsieur schon weiß, was er tut. Erst als wir im Hof einer Industrieanlage stehen, kommen ihm Zweifel. Dieser Abstecher gibt mir dann den Mut, Monsieur bei der nächsten Kreuzung zurückzurufen. Ja, beide Wegweiser zeigen nach Alpenrod und ja, der linke Weg ist auf der Routenführung eingeplant. Aber da steht auch Alpenrod 9 km, 13% Steigung. Rechts hingegen heißt es Alpenrod 12 km, 6% Steigung. Anbetracht der Anzeige unserer Batterien, der Quengelei unserer Wadenmuskeln und der sich doch langsam einstellenden Müdigkeit entscheiden wir uns weise für den rechten Weg. Der führt uns dann durch den niedlichen Ort Dehlingen, der über eine „Stadtstraße“ verfügt sowie einen riesigen Kreisverkehr. Daran gelegen ein Brunnen und ein Gemeinde-Backhaus. Der Termin für das nächste gemeinsame Backen ist schon angeschlagen. „Es sollte Ihnen nicht Wurst sein, wer Ihr Brot bäckt“, steht auf einem Schild.

Das andere Ende von Hachenburg empfängt uns mit viel Fachwerk und einem sehr schönen Freiluft-Museum – notiert für ein anderes Mal, denn jetzt steht uns der Sinn mehr nach einem Weizenbier auf dem Marktplatz.

Unter dem wachsamen Blicken des doppelgeschweiften Löwen genießen wir die Sonne, bis Monsieur beschließt, dass wir jetzt noch gerade zum Schloss hochfahren soll. Spricht’s, steigt auf sein Rad und sagt „Oh, Batterie tot!“ Das ist aber nicht weiter schlimm, denn vom Schloss bis zum Bahnhof geht es nur noch bergab. Allerdings muss Monsieur einen Gutteil der Strecke schieben. Pistazie-Zitrone in einem Hörnchen auf einem Fahrrad auf Kopfsteinpflaster ist eine ganz dumme Kombination, also schieben wir einträchtig bis wir wieder am Bahnhof sind, nach 52 Kilometern, 600 Höhenmetern, zwei Dönern, zwei Weizenbier und einem Eis.

Achja, eine Stunde später sitzen wir auf der Terrasse eines uns empfohlenen Golfhotels beim Apero. Da fällt mir ein und auf, dass gerade jetzt eigentlich mein Gymnastikkurs beginnen würde.

Hmmm, Aperol Spritz mit Blick auf den Golfkurs geht durch als Sport, oder?

Irgendetwas mit Wein

Monsieur erzählt mir etwas von einer Wanderung mit Wein, die Veranstalter nennen es „Mittelrheinischer Weinfrühling“, irgendetwas mit Wein, also.

„Viel zu überlaufen“, sagen die Nachbarn rechts. „Tut euch das nicht an.“

„Wir fahren hin“, sagen die Nachbarn links. „Wollt ihr mitkommen?“

Und schon sind wir überredet.

Ja, es ist voll, als wir mit dem Shuttle-Bus zum Endpunkt fahren. Es ist voll, als wir an der Schranke mit gefühlt Hunderten Wanderlustiger die Durchfahrt von zwei ICs abwarten und es ist voll, als wir uns dann am ersten Stand anstellen. Dort werden nämlich die Gläser verkauft, komplett mit einer sinnigen Halterung aus Lederkreis und Schuhriemen, die den freihändigen Transport der Gläser um den Hals ermöglichen.

Wir bekommen auch eine kleine Karte mit den 20 Ständen zu Wein und Kulinarik und treffen dort die Freunde der Nachbarn.

Dann profitieren wir von der Erfahrung der anderen, die wissen, bei welchen Ständen es lohnt zu halten und wo man das eher nicht muss. Insgesamt sind wir sehr brav, ganz besonders unser Nachbar, der sich an Mineralwasser hält. Nach dem zweiten Gläschen kommt zwischen Stand 6 und 10 eine sprichwörtliche Durststrecke, aber die hat mit dem Stand des Weingut Didinger ein Ende. Von dort aus können wir allerdings sehen, dass die Menschendichte inzwischen erheblich zugenommen hat auf den Wegen vorbei an Stand 11 bis 20. Was wir auch hören können, ist, dass ein nicht unerheblicher Teil dieser Menschen sich mit tragbaren Boxen ausgestattet hat. Die haben vom Design her nichts mehr mit den „Ghettoblastern“ unserer Jugend gemein, machen aber die gleiche Menge Krach.

Wir beschließen also auf den ein paar Höhenmeter oberhalb verlaufenden Rheinsteig auszuweichen, von wo wir die bunte Menschenmenge immer noch sehen, aber nicht mehr hören können.

Und so schließen wir den Mittelrheinischen Weinfrühling ab mit einer Wanderung oberhalb der Weinberge, was ja schließlich auch irgendetwas mit Wein ist.

Fingergymnastik

Wetter brummelt: „Ich kann’s ja mal versuchen.“ Um dann mürrisch nachzusetzen: „Aber versprechen tu ich nix!“

Entsprechend frisch ist es am Wanderparkplatz Oberlahnsteiner Forsthaus. Der Parkplatz ist sehr groß, etwa in der Mitte, halb versteckt hinter Stapeln gefällter Bäume, stehen zwei Wegweiser verloren in der Gegend herum. Ja, sie tragen Hinweisschilder und sie zeigen auch irgendwo hin, nur ist nicht so ganz klar, welche der Wege man ihnen zuordnen soll.

Ist aber nicht weiter schlimm, Monsieurs Lebensgefährtin weiß das und so beginnt der erste Teil der Fahrradtour zur alten Nassauischen Bahntrasse, Streckenabschnitt nach Braubach.

Ich würde jetzt gerne schreiben, dass wir radeln, aber es ist mehr Fingergymnastik an den Bremsen. In die Pedale treten müssen wir nicht, nur ab und zu mal bremsen, wenn die Pfützen zu schlammig werden, der Schotter sich für Treibsand hält.

Nach kaum fünf Minuten hält Monsieur und weist nach rechts. „Der Beweis“, meint er und zeigt auf die Brückenpfeiler, die dort verloren im Bachtal stehen. Als ob ich es ihm nicht ohnehin geglaubt habe, was er auf der ersten Bahntrassen-Wanderung herausgefunden hatte. Wirklich erstaunlich ist doch eher, dass wir schon jetzt an der Stelle sind, an der wir vor ein paar Tagen kehrt gemacht am – am gegenüberliegenden Ufer. Am hiesigen Ufer beginnt die alte Bahntrasse.

Auf unseren Streifzügen durch den Taunus haben wir festgestellt, dass etwa 90% der Bäche auf den phantasievollen Namen „Mühlbach“ hören und so beschließen wir einfach, dass auch dieser, einst von der Brücke überquerte, Bach ein Mühlbach sei. Die Trasse folgt ihm in Richtung Rhein. Ein Ponyweg kreuzt – ausführlich beschildert – unseren Pfad, aber die Ardenner bleiben als Kaltblüter auf der Bahntrasse. Kurz vor Braubach biegt der breite Weg im spitzen Winkel zu einer Mühle ab. Die Bahntrasse geht natürlich geradeaus weiter, allerdings als überwachsener Trampelpfad in der Mitte der Trasse. Kniehohes Gras, noch Regen-nass vom nächtlichen Gewittersturm, schlägt gegen die Waden, gelegentlich steigt Monsieur ab, um dickere Äste aus dem Pfad zu ziehen. Schließlich mündet der Pfad auf die Straße. „Nass. Bahntrasse“ steht dort auf einem handgeschnitzten Schild. Stimmt, nass war sie, die Trasse, im letzten Abschnitt.

Braubach ist dann Rheinromantik pur. Die Marksburg thront über dem Städtchen, ein mittelalterliches Stadttor lässt uns eintreten, Fachwerkhäuser neigen ihre Giebel rechts und links über die Gassen.

Am Marktplatz gönnen wir uns eine Pause, während die Intercitys und Güterzüge gefühlt direkt an unserem Tisch vorbeibrausen. Angeblich hätten die Hoteliers der Rheinromantik-Örtchen in den 1860ern darum gebeten, die Gleise direkt vor ihren Terrassen zu verlegen, um ihren Gästen das „atemberaubende Schauspiel der vorbeibrausenden Lokomotiven“ – Inbegriff des Fortschritts – zu ermöglichen. Ja, hätten sie das noch mal zu machen…

Mit der Philippsburg zeigt Braubach, dass es auch Renaissance kann und dann sind wir auf dem Rheinradweg. Obwohl das hinter Braubach eher eine Vertrauenssache ist: rechts ist der hohe Damm der viel befahrenen Bundesstraße, links der hohe Damm, der vor Hochwasser schützen soll, da müssen wir einfach darauf trauen, dass wir am Rhein entlang fahren.

Lahnstein ist durch Großbaustellen und Umleitungen gleich chaotisch für Auto- wie für Radfahrer, aber hinter der Lahnbrücke geht es dann auf den stillen und recht romantischen Lahnradweg. Bei Friedrichssegen kreuzen wir zurück auf die andere Lahnseite und müssen uns dann den Tatsachen des Lebens stellen. Dass so ein Fluss ja meist unten, im Tal, der Ausgangspunkt unsere Radtour aber oben auf den Lahnhöhen liegt.

Vielleicht könnte man Blood, Sweat and Tears überreden eine leicht modifizierte Version des Spinning Wheel aufzunehmen. Statt “What goes up must come down” eher etwas in Richtung “What rolls down, must – ähhh -strampel up”.

Radfahrerhymne…

Nassauische K(l)einbahn

In das tolle Museum in Neapel hatten wir es ja nicht mehr geschafft, dafür wirbt in Nastätten das „charmanteste Museum der Region“ um unseren Besuch.

Charmant ist es wirklich und zwei Damen vermitteln sehr kompetent und begeistert ihr Wissen zum „Blauen Ländchen“. Wenn die Herstellung des blauen Farbstoffes auch eher abschreckend klingt – ich sage nur: Waid (ok, aber dann kommt’s:), Urin (in großen Mengen) und dicke Maden in demselben (fragt bitte nicht weiter) – bin ich jetzt angemeldet für einen Waid-Färber-Kurs.

Blaue Textilien sind einer der Schwerpunkte dieses sehr liebevoll ausgestatteten Museums, die Nassauische Kleinbahn ein anderer. Die Bahn gibt es nicht mehr, aber ihre Trasse wird als Wander- und Radweg beworben. Das wollen wir erstmal zu Fuß austesten, bevor wir die Ardenner auf den Fahrradträger hieven.

Auf dem Parkplatz am Friedhof von Becheln fotografieren wir den eingezeichneten Rundweg ab, unsere Wander- bzw. Radweg-Apps kennen ihn nicht. Die ersten Zweifel kommen uns schon nach den ersten hundert Metern. Am Wanderplatzschild hing ein fotokopierter Zettel für „Erst-Wanderer“, ein Wort, das ich bis dato auch noch nicht kannte, mit detaillierten Hinweisen zu Be01-03 als „Zuwanderungen“ zur Bahntrasse. Nur lassen sich in der realen Natur des Taunus keine Wegzeichen, ja fast keine Spuren eines Wanderweges finden. Monsieur will trotzdem diesen Pfad rechts am Feldrain nehmen, der steil nach unten führt. So etwas macht mich immer misstrauisch. „What goes up, must come down“, singen Blood, Sweat and Tears, aber in unserem Fall ist es ja eher umgekehrt: was wir bergab gehen, müssen wir später mühsam wieder hochlaufen. Unser Auto kommt leider nicht, wenn wir pfeifen.

Tatsächlich mündet der Pfad auf eine breite Trasse – wir haben sie gefunden, die Bahnstrecke der Nassauische Kleinbahn. Auf der Trasse ist fein wandern, unterbrochen von Tafeln zu Geschichte und Geschichten der Bahn. Dass die Bauern im Dorf A ihr Land der Bahn unentgeltlich zur Verfügung stellten, unter der Bedingung, dass Dorf A einen Bahnhof erhalte und dieser auch einen beheizten Warteraum haben müsste. Dass dafür im Dorf B ein Bollerofen im Bahnhof abgebaut worden sei, jener Ofen aber nie im Dorf A angekommen sein. Intrigen über Intrigen! Dann kommen mehrere Tafeln mit zeitgenössischen Fotos zu umgekippten, zusammengestoßenen, von den Gleisen gesprungenen Zügen. Wir bekommen den Eindruck, dass diese tolle neue Technologie noch nicht wirklich beherrscht wurde.  Von den Krawallen der betrunkenen Bahnbauarbeiter, die auch mal mit Dynamitstangen – angezündeten! –  um sich warfen, ganz zu schweigen. Sehr schön in diesem Zeitungsbericht, die Erwähnung, dass die „sehr resolute Wirtin“ die Situation in den Griff bekam – lange bevor die Polizei kam.

Die tief in den Hang eingeschnittenen Abschnitte der Trasse erklären das Vorhandensein der Dynamitstangen und lassen uns über die Arbeit der Landvermesser nachdenken, die in dieser Gegend der steilen Bachtäler eine geeignete Streckenführung suchen mussten. Um 1903 war sie fertig, die Kleinbahn, Ende der 1970er wurde sie eingestellt, also keine Bahn mehr, aber die Trassen wurden in Wirtschaftswege umgewandelt.

Wir laufen an den Be01- und Be02-Abzweigungen vorbei, wir wollen die Be03-Variante am Mühlbach entlang zurück nach Becheln nehmen. Just dort kreuzt ein Viadukt den Bach, aber der Bahntrassen-Wegweiser zeigt links auf ein paar sehr steile Holzbohlen-Treppenstufen bergab. Über den kleinen Bach suchen wir uns einen – eher feuchten – Übergang, dann geht es weitere Holzbohlen-Stufen hoch und da ist sie dann wieder, die Trasse. Monsieur – immer der kleine Forscher – will nun wissen, weshalb der Umweg und geht nachforschen. Er kommt zurück mit der Erkenntnis, dass eine Brücke, von der nur noch die Pfeiler stehen, eine Überquerung für Mensch und Fahrrad eher unangenehm gestalten würde.

Aus der Gegenrichtung kommt ein Mountainbiker angekeucht und bestätigt uns, dass diese kleine Passage die einzig unangenehme auf dem weiteren Weg nach Braubach am Rhein sei.

Das hört sich doch ganz gut an, so ein paar Treppenstufen sollten die Ardenner schaffen.

Die ersten Etappen der Radtour sind somit gesichert und wir machen uns mit Be03 auf den Rückweg zum Auto. Allerdings hat Be03 seine eigenen Vorstellungen dazu, was ein Wanderweg sein soll. Er sieht sich eher als Trimmpfad. Umgestürzte Bäume zwingen zum Drüber- oder Drunterdurch-Steigen, abgebrochene Wegränder zum Balancieren auf schmalen Pfadresten, es ist sehr kurzweilig.

Irgendwann wird der Weg dann wieder breiter, dafür bietet ein alter Stollen Höhlenforscher-Abenteuer am Wegrand. Uns ist mehr nach Waldromantik, wenn auch das Leben für Monsieur eine herbe Enttäuschung parat hält. Der hatte nämlich auf der abfotografierten Wanderkarte vier Teiche als Forellenzucht interpretiert mit Gedankenspielen, die in Richtung eventuell zu kaufender Forellen gingen mit weiterführenden Ideen zu Mandelbutter und Petersilienkartöffelchen.

Aber das Leben kann ja so uneinsichtig sein und die Forellenzucht entpuppt sich als die Kläranlage der Gemeinde mit algen- und wasserlinsenbedeckten Klärteichen. Wirklich gemein!

Der Rückweg aus dem Tal ist so steil wie befürchtet, aber irgendwie schaffen wir das, mit dem festen Entschluss, der Kleinbahn bis Braubach zu folgen. Von da aus entlang des Rheinradweges und der viel größeren – und leider auch lauteren – Trassen von Bundesbahn und Bundestraße bis Koblenz und dann wieder nach Hause.

Jetzt müssen wir nur noch das Wetter überreden mitzuspielen.

Für den Lieblingsenkel

Heute Morgen haben wir viel Zeit. Fürs Frühstücken, Packen, Schlendern, für alles Mögliche, nur eben nicht für das, was ich für heute Morgen angeplant hatte: Das sehr kleine Museum in der Sansevero Kapelle mit seinen Kunstschätzen, die von exquisit bis bizarr rangieren. Gestern Abend habe ich noch schnell die Öffnungszeiten nachgeschaut und herausgefunden, dass wir unsere Tickets vor Wochen hätten online reservieren müssen. Ja, hätte ich wissen können, habe ich aber nicht. Für heute ist eh ausverkauft.

Auf dem Weg zu dem netten Café, das ich auf der Piazza San Domenico Maggiore gesehen hatte, kommen wir am Museum vorbei. Die Warteschlange am Einlass geht um zwei Straßenecken, wirklich nicht das, was wir uns für einen entspannten letzten Morgen vorgestellt haben. Stattdessen gibt es Kaffee und luftig leichtes Hefegebäck, Orangensaft und ganz viel Sonne. Vielleicht ganz gut so: die Kunstwerke kann ich mir im Internet anschauen, Sonnenstrahlen im Gesicht tun nur im realen Leben gut.

So gestärkt tauchen wir noch einmal ein in das Gewühl und Gewimmel der Altstadtgässchen und trauen uns am letzten Tag in die Via San Gregorio Armeno, die Gasse der Krippenmacher. Neapels zweite Spezialität neben der Pizza sind die prächtig ausgestatteten Krippen. Aus Korkblöcken wird der Hintergrund gestaltet, der dann mit mannigfachem Personal ausgestattet wird. In den Geschäften kann man sich seine ganz persönliche Weihnachtsszene zusammenstellen. Dass Neapels Fußballverein – im blauen Trikot – nicht in der Weihnachtsgeschichte vorkommt, scheint niemanden zu stören.  Und dann steht neben der Queen noch ein Kerl, der in meinen Augen ganz bestimmt nicht in eine Krippe gehört.

Unser Taxi ist für zwölf Uhr bestellt, da bleibt noch Zeit, sich um etwas Verpflegung zu kümmern. Auf der Via di Tribunali hatte ich einen Laden gesehen, der sehr appetitanregend wirkte.

Ein bärtiger Hüne bastelt sehr konzentriert an kleinen Häppchen, blickt auf und strahlt uns an. Wir bestellen, er nimmt zwei panino, und schneidet sie auf. Dann ist der Mozarella dran, der Hüne reicht uns nonchalant die abgeschnittenen Endstücke und fischt gebratenen Friarielli – eine Art wilder Brokkoli – aus dem Öl. Schichtet beides übereinander und greift nach dem Teller mit dem hauchdünn aufgeschnittenen Braten. Zwei Hände voll davon drapiert er hoch auf das Gemüse, das Fleisch legt sich in üppige Falten, noch etwas Olivenöl dazu – kurzum das ist ein belegtes Brötchen, wie die „Nonna“ es ihrem Lieblingsenkel für den Wandertag mitgibt.

Das erweist sich als gut so. Unser Taxifahrer bringt uns mit lachender Gelassenheit durch teilweise haarsträubende Verkehrssituationen fast pünktlich zum Flughafen. Wo uns erst unsere Airline ihre Verspätung mitteilt und dann der Flughafen ankündigt, dass der Tower ein Computerproblem habe.

Mit mehreren Stunden Verspätung kommen wir in Genf und eine halbe Stunde später zuhause an. Noch immer so satt, dass wir die Cappellini al limone auf morgen verschieben.

Aschenputtels böse Stiefschwester

Pompeji ist für uns eine seltsame Mischung aus staunen, bewundern und ärgern. Sehr anstrengend ist es auch.

Wir treten mit einer Menge anderer Touristen aus dem Bahnhof und stehen vor einem halben Dutzend Buden, die anbieten, die Eintrittskarte hier zu kaufen, um sich Schlangestehen an der offiziellen Kasse zu ersparen. Klingt freundlich, ist aber Nepp. Was sie wirklich verkaufen, ist nicht der Eintritt für 20 Euro, sondern ihre Führung für 40 Euro.

Wir haben uns das gestern Abend lange überlegt. Drei Stunden Führung in Ercolano waren uns schon ein bisschen zu viel Fremdbestimmtheit. Die Pompeji-Führung ist noch länger und das wollen wir dann lieber selber gestalten.

Wir wollen also nur die Tickets kaufen und da werden sie pampig. Behaupten, dass man sich nicht alleine zurechtfinden würde (nun ja), weil es keine Straßennamen gäbe (stimmt nicht!), dass die einzelnen Sehenswürdigkeiten nicht gekennzeichnet wären (stimmt nicht!), dass es keine Erklärungen in den Gebäuden gäbe (stimmt nicht!). Dann verlangen sie noch zwei Euro Vermittlungsgebühr für die Karten. Ich leiste mir noch ihren Pompeji Führer für 12 Euro (Buch und Stadtplan) und stelle erst später fest, dass der Plan fehlt.

Ein ziemlich übler Start.

Es kann also nur besser werden.

Wird es!

Wir lassen die Unterstadt Thermen wörtlich links in ihrer Senke liegen und steigen hoch durch die Porta Marina zum Venustempel und zur Sonne. Unsere gerade erworbene Pizza ist noch warm. Eine junge Frau sitzt kauend auf einem Säulenrest. Wir fragen sie, ob sie dies Restaurant empfehlen kann und sie nickt lachend und deutet einladend auf die Säulenreste neben ihr. Der Blick auf dieser Picknickterrasse geht über die Kehrseite von viel heroische Nacktheit, irgendwie deutlich weniger heroisch von hinten.

Irgendwann lecken wir die Finger ab und versuchen mithilfe der Pläne im Internet und des kleinen Faltblattes, das die Dame an den Budchen doch noch herausgerückt hat, unseren Besuch zu strukturieren. Apollotempel, Jupitertempel und Forum, klar, alles ums Forum herum auch und dann sehen wir mal weiter.

Was wir danach sehen, ist die Erste Hilfe Station des Croce rossa.

Ich hatte mich sehr dumm angestellt und es geschafft, mir – trotz Wanderschuhen – einen Zeh blutig anzuschlagen, war aber der Meinung mit Zähne zusammenbeißen ginge das schon. Inzwischen komme ich mir vor wie Aschenputtels böse Stiefschwester: Ruckedigu, Ruckedigu …

In der Station ziehe ich vorsichtig den linken Schuh aus, noch vorsichtiger den Strumpf und die zwei Sanitäter ziehen die Luft ein. „Amputare!“, nickt der eine, während der andere mich zu trösten versucht, dass ich ja noch neun Zehen übrighätte. Dann brechen beide in schallendes Gelächter aus, wahrscheinlich wegen meines Gesichtsausdrucks. Nach so viel Spaß arbeiten sie sehr professionell, bis das Malheur gereinigt, desinfiziert und verbunden ist.

Monsieur hat derweil in der Sonne auf einem Mäuerchen gesessen und eine Menge „Wir könnten doch…“ ausgearbeitet. Seine Vorschläge scheitern gelegentlich an seltsamen Einbahnregelungen, die uns nicht erlauben, ein Haus auf dem gleichen Weg zu verlassen und uns in die Parallelstraße führen. Das führt dann zu langwierigen Umwegen oder aber zu kurzfristigen Planänderungen, wir sind da sehr flexibel. Die Häuser sind meist exquisit ausgestaltet, die oft bepflanzten Innenhöfe vermitteln ein anschauliches Bild des Lebens der Oberschicht.

Natürlich gibt es auch die Häuser mit den erotischen Szenen oder das berühmte Bild des Gottes mit dem Riesen-Phallus auf der Waagschale. Auf der Erklärtafel dazu steht, dass dieses Bild bis vor ein paar Jahrzehnten noch mit einer Holztafel abgedeckt war, die nur auf Anfrage geöffnet wurde und auch nur dann, wenn der Fragesteller männlich und über 21 Jahre alt war.

Irgendwann brauche ich eine Pause und wir steigen hoch zu der Kirche, die auf dem heutigen Niveau über den Ausgrabungen thront. Dort wird ein Besucherzentrum eingerichtet, aber im Augenblick muss ich mich mit den Gartenmäuerchen als Sitzplatz begnügen.

Monsieur will nun noch in das weit entfernte Amphitheater, was ich ihm von ganzen Herzen gönne – genüsslich in der Sonne sitzend und dem Trubel um mich herum lauschend. Ein halbes Dutzend französischer Schulklassen genießt Bildung, Sonne und Freiheit. Ich höre Satzfetzen wie „Eine Sache habe ich heute schon gelernt: also, das Forum…“ oder „Will jemand seine Orange gegen meine Kekse tauschen?“ oder „Madame, Madame, wissen Sie, wo der Abfalleimer steht?“ Die Stimmung ist wunderbar.

Der Weg zur Villa der Mysterien – unser vorletztes Ziel – vorbei an den prachtvollen Villen im Sektor VI ist lang und ab der Porta Ercolana auch recht steil. Die Fresken selber wirken schon fast modern, die Farben noch so frisch und strahlend, die Darstellungen wie aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Es gibt Interpretationen, dass hier die Mysterien des Dionysos dargestellt werden, aber die Forschung ist sich nicht einig, so dass die Villa der Mysterien nach wie vor ein Mysterium ist.

Der Weg zurück gehört nicht zu meinen Highlights von Pompeji: lang, steil, heiß, macht er mehr als deutlich, dass wir, nun ja, ich ziemlich müde bin und dass wir seit der kleinen Pizza vor langer Zeit nichts mehr gegessen haben. Das „Restaurant“ am Forum ist aber wenig ansprechend und so verzichten wir gerne auf Sandwichs aus dem Automaten.

Inzwischen sind wir fünf Stunden unterwegs und langsam ist es genug. Nur noch die Terme Suburbane, direkt neben dem Eingang, dann schließen wir „unser Pompeji“ für heute ab.

Leider schließen wir auf einer sehr verärgerten Note ab. Am Forum ist plötzlich der Weg nach unten durch die Porta Marina abgesperrt, Besucher werden durch den Museumsshop und das Antiquarum zwangsumgeleitet. Da gibt es dann keinen Ausgang, wir werden eine Viertelstunde lang von Raum zu Raum, von Etage zu Etage geleitet, nirgendswo gibt es einen Ausgang. „Ja!“, lacht die Museumsangestellte, „das ist jetzt gerade kompliziert mit dem Umbau. Sehen Sie, da ist der Ausgang – aber gesperrt!“ Dann stürzt sie sich in langwierige Erklärungen, die uns in den Kellerräumen fast wieder umkehren lassen, bis wir tatsächlich den hinter mehreren verwinkelten Ecken versteckten Not- und jetzt Hauptausgang finden.

Zu unserer Verwunderung stehen wir fast direkt vor den Drehkreuzen des Ausgangs, keine Möglichkeit, einen Zugang zu den Thermen, quasi auf der anderen Seite des Eingangsbereichs, zu finden.

Wir versuchen jemanden vom Personal zu überreden, uns schnell hinaus und kurz – nur für die Thermen – wir haben ja ganz offensichtlich Eintrittskarten – wir wollen doch nur…

Die Dame wiegelt knallhart ab, das ginge auf gar keinen Fall. Auf unsere Bitte, uns nun einen schnellen Weg in Pompeji selbst zu den Thermen zu erklären, kommt ein ernüchterndes: „Die sind eh seit drei Minuten geschlossen.“ Vielen Dank, Zwangsumleitung.

Der Zug nach Neapel ist ziemlich überfüllt und wir sehen offensichtlich noch nicht so alt aus, dass uns Jüngere ihren Sitzplatz anbieten. Das ist ja eigentlich ein ganz positiver Aspekt, wenn auch etwas anstrengend.

Vor der Porta Nolana zückt Monsieur seine Lebensgefährtin, während ich schnurstracks auf ein Taxi zugehe. Monsieur seufzt und kapituliert.