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Im Lande des doppelgeschweiften Löwen

Ja, ich weiß, das klingt jetzt recht exotisch, Richtung Südostasien oder zumindest Seidenstraße.

Deutlich fremdländischer jedenfalls als „Westerwald“. Ist aber der offizielle Titel dieser „E-Bike-Traumtour“ von und bis Hachenburg. Das Städtchen soll sehr schön sein, weiß Monsieur, allerdings springt zuerst so gar kein Funke über. Kein Wunder, parken wir doch am Bahnhof, an der Industriezone. Die liegt aber schnell hinter uns und schönste gelbgetupfte Wiesenlandschaften vor uns.

Das Kloster Marienstatt imponiert mit der weisen Entscheidung, den barocken Bauwillen nur an den Wohngebäuden auszutoben.

Was mir aber noch viel mehr zusagt, ist der Klostergarten mit seinen Heilkräutern, die Grünflächen mit den hineingetupften blühenden Apfelbäumen – und mein heimlicher Held des Tages (neben Monsieur natürlich). In geradezu philosophisch-stoischer Ruhe zieht ein Mähroboter seine Bahnen über die sehr großen Rasenflächen. Zieht und stoppt und wendet und mäht weiter, unbeirrt und unverzagt, wohl ahnend, dass er, kaum mit dem einen Teilstück fertig, am anderen Ende wieder anfangen kann. Ein kleiner tapferer Sisyphus der Gartenarbeit.  

Auf der alten Brücke kreuzen wir die Große Nister und ein paar steile Straßenkilometer bringen uns nach Limbach ins Tal der Kleinen Nister. Streithausen verdankt seinen Namen sicher einem uralten keltischen Ursprung, der nichts mit dem heutigen Wort … Jedenfalls können wir uns ohne Streit auf die Weiterfahrt einigen. Atzelgift gibt uns eine weitere Möglichkeit über Ortsnamen und ihre Bedeutung nachzudenken, bis wir ein paar Momente still im Ehrenhain innehalten. Kriegerdenkmäle ziehen mich an, die Zahl der Namen, oft aus ein und derselben Familie, die Tragödien und der unendliche Schmerz hinter den dürren Angaben berühren mich, auch wenn die meist sehr martialische oder kriegsverherrlichende Formsprache der Denkmäler mich eher abstößt. Hier trifft es mich unverhofft und sehr tief. Die Figuren stehen locker gruppiert auf einer Waldwiese am Bach. Zeitlos und doch – leider wieder – sehr aktuell zeigen sie das Leid aller: die wartende Frau, der traumatisierte Rückkehrer, Familien, die vergebens hoffen.

Der Weg führt uns weiter durch große Wälder und auf ein – verzeiht die Analogie – weiteres Schlachtfeld unserer Zeit. Wir fahren an langen, mehrere Meter hohen Holzstapeln vorbei, säuberlich aufgestapeltes Waldsterben, fein aufgeräumter Klimawandel. Wobei ich nicht weiß, was mich mehr belastet: die Hektar um Hektar verwüsteter, abgeholzter Fläche, auf der der eine oder andere Überlebende einsam seine Äste in den Himmel streckt oder das traurige Mahnmal der abgestorbenen Nadelholzwälder, die als graue tote Flächen im sanften Grün der austreibenden Laubwälder stehen.

Bad Marienberg hatten wir für die Mittagspause angedacht, aber nicht mit unseren Trödeleien gerechnet. Es ist also schon zu spät für die meisten Restaurants. Deshalb gönnen wir uns in einem typisch deutschen Spezialitätenrestaurant eine typisch deutsche Spezialität: „einmal Döner mit alles“.

Das gibt uns dann Kraft für den Rest der Tour. Wir kommen unbeschadet an der Schnapsbrennerei in Nistertal vorbei, aber dann ist Monsieur zu schnell mit dem Abbiegen. Ich habe den Wegweiser gesehen, aber darauf vertraut, dass Monsieur schon weiß, was er tut. Erst als wir im Hof einer Industrieanlage stehen, kommen ihm Zweifel. Dieser Abstecher gibt mir dann den Mut, Monsieur bei der nächsten Kreuzung zurückzurufen. Ja, beide Wegweiser zeigen nach Alpenrod und ja, der linke Weg ist auf der Routenführung eingeplant. Aber da steht auch Alpenrod 9 km, 13% Steigung. Rechts hingegen heißt es Alpenrod 12 km, 6% Steigung. Anbetracht der Anzeige unserer Batterien, der Quengelei unserer Wadenmuskeln und der sich doch langsam einstellenden Müdigkeit entscheiden wir uns weise für den rechten Weg. Der führt uns dann durch den niedlichen Ort Dehlingen, der über eine „Stadtstraße“ verfügt sowie einen riesigen Kreisverkehr. Daran gelegen ein Brunnen und ein Gemeinde-Backhaus. Der Termin für das nächste gemeinsame Backen ist schon angeschlagen. „Es sollte Ihnen nicht Wurst sein, wer Ihr Brot bäckt“, steht auf einem Schild.

Das andere Ende von Hachenburg empfängt uns mit viel Fachwerk und einem sehr schönen Freiluft-Museum – notiert für ein anderes Mal, denn jetzt steht uns der Sinn mehr nach einem Weizenbier auf dem Marktplatz.

Unter dem wachsamen Blicken des doppelgeschweiften Löwen genießen wir die Sonne, bis Monsieur beschließt, dass wir jetzt noch gerade zum Schloss hochfahren soll. Spricht’s, steigt auf sein Rad und sagt „Oh, Batterie tot!“ Das ist aber nicht weiter schlimm, denn vom Schloss bis zum Bahnhof geht es nur noch bergab. Allerdings muss Monsieur einen Gutteil der Strecke schieben. Pistazie-Zitrone in einem Hörnchen auf einem Fahrrad auf Kopfsteinpflaster ist eine ganz dumme Kombination, also schieben wir einträchtig bis wir wieder am Bahnhof sind, nach 52 Kilometern, 600 Höhenmetern, zwei Dönern, zwei Weizenbier und einem Eis.

Achja, eine Stunde später sitzen wir auf der Terrasse eines uns empfohlenen Golfhotels beim Apero. Da fällt mir ein und auf, dass gerade jetzt eigentlich mein Gymnastikkurs beginnen würde.

Hmmm, Aperol Spritz mit Blick auf den Golfkurs geht durch als Sport, oder?

Fingergymnastik

Wetter brummelt: „Ich kann’s ja mal versuchen.“ Um dann mürrisch nachzusetzen: „Aber versprechen tu ich nix!“

Entsprechend frisch ist es am Wanderparkplatz Oberlahnsteiner Forsthaus. Der Parkplatz ist sehr groß, etwa in der Mitte, halb versteckt hinter Stapeln gefällter Bäume, stehen zwei Wegweiser verloren in der Gegend herum. Ja, sie tragen Hinweisschilder und sie zeigen auch irgendwo hin, nur ist nicht so ganz klar, welche der Wege man ihnen zuordnen soll.

Ist aber nicht weiter schlimm, Monsieurs Lebensgefährtin weiß das und so beginnt der erste Teil der Fahrradtour zur alten Nassauischen Bahntrasse, Streckenabschnitt nach Braubach.

Ich würde jetzt gerne schreiben, dass wir radeln, aber es ist mehr Fingergymnastik an den Bremsen. In die Pedale treten müssen wir nicht, nur ab und zu mal bremsen, wenn die Pfützen zu schlammig werden, der Schotter sich für Treibsand hält.

Nach kaum fünf Minuten hält Monsieur und weist nach rechts. „Der Beweis“, meint er und zeigt auf die Brückenpfeiler, die dort verloren im Bachtal stehen. Als ob ich es ihm nicht ohnehin geglaubt habe, was er auf der ersten Bahntrassen-Wanderung herausgefunden hatte. Wirklich erstaunlich ist doch eher, dass wir schon jetzt an der Stelle sind, an der wir vor ein paar Tagen kehrt gemacht am – am gegenüberliegenden Ufer. Am hiesigen Ufer beginnt die alte Bahntrasse.

Auf unseren Streifzügen durch den Taunus haben wir festgestellt, dass etwa 90% der Bäche auf den phantasievollen Namen „Mühlbach“ hören und so beschließen wir einfach, dass auch dieser, einst von der Brücke überquerte, Bach ein Mühlbach sei. Die Trasse folgt ihm in Richtung Rhein. Ein Ponyweg kreuzt – ausführlich beschildert – unseren Pfad, aber die Ardenner bleiben als Kaltblüter auf der Bahntrasse. Kurz vor Braubach biegt der breite Weg im spitzen Winkel zu einer Mühle ab. Die Bahntrasse geht natürlich geradeaus weiter, allerdings als überwachsener Trampelpfad in der Mitte der Trasse. Kniehohes Gras, noch Regen-nass vom nächtlichen Gewittersturm, schlägt gegen die Waden, gelegentlich steigt Monsieur ab, um dickere Äste aus dem Pfad zu ziehen. Schließlich mündet der Pfad auf die Straße. „Nass. Bahntrasse“ steht dort auf einem handgeschnitzten Schild. Stimmt, nass war sie, die Trasse, im letzten Abschnitt.

Braubach ist dann Rheinromantik pur. Die Marksburg thront über dem Städtchen, ein mittelalterliches Stadttor lässt uns eintreten, Fachwerkhäuser neigen ihre Giebel rechts und links über die Gassen.

Am Marktplatz gönnen wir uns eine Pause, während die Intercitys und Güterzüge gefühlt direkt an unserem Tisch vorbeibrausen. Angeblich hätten die Hoteliers der Rheinromantik-Örtchen in den 1860ern darum gebeten, die Gleise direkt vor ihren Terrassen zu verlegen, um ihren Gästen das „atemberaubende Schauspiel der vorbeibrausenden Lokomotiven“ – Inbegriff des Fortschritts – zu ermöglichen. Ja, hätten sie das noch mal zu machen…

Mit der Philippsburg zeigt Braubach, dass es auch Renaissance kann und dann sind wir auf dem Rheinradweg. Obwohl das hinter Braubach eher eine Vertrauenssache ist: rechts ist der hohe Damm der viel befahrenen Bundesstraße, links der hohe Damm, der vor Hochwasser schützen soll, da müssen wir einfach darauf trauen, dass wir am Rhein entlang fahren.

Lahnstein ist durch Großbaustellen und Umleitungen gleich chaotisch für Auto- wie für Radfahrer, aber hinter der Lahnbrücke geht es dann auf den stillen und recht romantischen Lahnradweg. Bei Friedrichssegen kreuzen wir zurück auf die andere Lahnseite und müssen uns dann den Tatsachen des Lebens stellen. Dass so ein Fluss ja meist unten, im Tal, der Ausgangspunkt unsere Radtour aber oben auf den Lahnhöhen liegt.

Vielleicht könnte man Blood, Sweat and Tears überreden eine leicht modifizierte Version des Spinning Wheel aufzunehmen. Statt “What goes up must come down” eher etwas in Richtung “What rolls down, must – ähhh -strampel up”.

Radfahrerhymne…

Ein bisschen beunruhigend


Irgendwie klappt das alles zu reibungslos. Es ist fast ein bisschen beunruhigend.


Wir sind heute morgen in diesen noblen Vorort von Koblenz gefahren, haben einen Parkplatz gefunden und die Räder abgeladen. Gut, Monsieur meint, er müsse mein Auto noch mal kurz umparken, weil es nicht korrekt genug geparkt ist für diesen noblen Vorort, aber dann geht es durch ein Sonntagmorgen-leeres Koblenz zum Bahnhof: grüne Welle an allen Ampeln.
Am Bahnsteig 5 ist zwar die Rolltreppe kaputt, aber ein freundlicher Mensch schickt uns zwei Ecken weiter zum Aufzug. Unsere Bedenken, durch die letzten Erfahrungen gestützt, werden mit einem empörten: „Das ist ein Hauptbahnhof hier! Natürlich funktioniert der Aufzug!“ weggewischt. Tut er tatsächlich.


Auf dem Nachbargleis läuft der zwei Stunden verspätete „Rheingold“ ein, auf nostalgischer Genussreise und ermöglicht uns einen kurzen Blick zurück in jene historischen Zeiten, als Bahnreisen ein elegantes Vergnügen war.


Der Zug nach Klagenfurt fällt ganz aus, der nach Dortmund hat mehrere Stunden Verspätung, aber unser Regio nach Mayen kommt pünktlich, ist völlig leer und fährt pünktlich ab. Wie gesagt, irgendwie seltsam. Ich habe das Gefühl, wenn ich mich umdrehen, wartet da etwas auf mich. Sturzregen, plötzlicher Zusammenbruch aller Bahnverbindungen, Problemchen, kleine Katastrophen, irgendetwas Unerwartetes, nicht unbedingt Angenehmes. Macht mich ein bisschen nervös…


In Mayen nehmen wir die inzwischen bekannte Strecke bis zu der Brücke, unter der wir uns beim ersten Mal auf dem Weg nach Weißenthurm verfahren haben. Diesmal geht es wirklich geradeaus weiter und die alte Bahntrasse wird zum Märchenwald. Inklusive der Drachenhöhle. Im realen Leben sind es zwei Eisenbahntunnel, die wir durchrollen, aber Drachenhöhle passt viel besser zum verzauberten Wald ringsum uns herum. Ab und an schießt ein Rennfahrer an uns vorbei, ansonsten sind wir weitgehend allein. Zwei hohe Eisenbahnbrücken bringen uns über tiefe Täler.

In Polch beschließt Monsieur, dass das gute Essen im alten Bahnhof nicht die einzige Attraktion des Ortes sein darf, schließlich bietet er die – angeblich – älteste Kirche der Eifel. Die kleine Kapelle ist sehr stolz darauf, einen römischen Grabstein als Türsturz zu haben und zeigt mit der gut sichtbaren Inschrift auch völlig ohne Scham, wem sie ihn geklaut haben. Faszinierender finde ich die Dutzende von kleinen Basaltkreuzen, die als Grabsteine zwar die Zahl, 1537 war der älteste, den ich finde, aber statt des Namens nur die Hausmarke tragen, hier eine Wolfsangel, da eine Raute oder eine Pfeilspitze.


Monsieur bietet mir noch mehr Kirchlein in Nachbarorten an, aber ich locke ihn mit der Eisdiele in Münstermaifeld. Das zieht immer. „Buttermilch-Himbeer-Torte“ heißt die Mogelpackung von Kuchen, die ich mir bestelle. Buttermilch, das ist leicht und fettarm, Himbeeren sind vitaminreich, man könnte fast glauben, dass das Ganze so richtig gesund ist.


Die Torte, die kommt, ist natürlich nicht ganz so kalorienarm wie angedeutet. Zwischen all das Leichte und die Vitamine haben sie eine Menge Schoko-Tortenböden geschichtet und das bis zu einer Höhe, die eher anderthalb Kuchen entspricht. Aber ich bin der Herausforderung durchaus gewachsen, außerdem brauchen wir ja auch Reserven für die nächsten Kilometer.


Die letzten haben wir nämlich kurz hinter Pillig aufgebraucht – für ein Missverständnis. Wenn ich Elzbachtal und Burg in einen Satz lese, ist das für mich natürlich Burg Elz. Für alle, die sie nicht kennen, schaut mal gerade im Portemonnaie nach, ob ihr noch zufällig einen 500-Mark-Schein drin habt. Genau, das ist Burg Elz. Die man laut Tourbeschreibung von Pillig aus sehen kann. In Pillig und um Pillig herum gibt es auch genug Wegweiser zu Wanderparkplätzen zur Burg Elz, es gibt auch einen Elz-Radweg, dem wir natürlich nicht folgen, da wir auf dem Maifeld-Mosel-Radweg sind.

Ich bin so überzeugt, dass wir die Burg Elz sehen werden, dass ich Burg Pyrmont einfach wegwinke: falsche Burg, die richtige kommt noch. Wir sausen die steile Abfahrt zur Pyrmonter Mühle hinunter (wohl wissend, dass wir später – nach der Burg Elz – das alles wieder hochfahren müssen) und Monsieur hält an, um kurz die Streckenbeschreibung zu kontrollieren. Da ist er dann, mein Fehler, natürlich steht da Elzbachtal und Burg, aber dahinter dann auch Pyrmont.

Tja, wer lesen kann, ist klar im Vorteil und hätte sich einige stramme Kilometer bergauf erspart. Denn eines ist klar: für die Pyrmont hätte ich diese Schleife nicht gemacht.


Das alles ist bei der Pause in Münstermaifeld schnell vergessen. Wir gönnen uns noch einen kurzen Blick in die imposante Stiftskirche, die irgendwie auch etwas Wehrhaftes, Burg-Ähnliches hat und nehmen die Feldwege bis Mörz in Angriff, das letzte bisschen bergauf für lange Zeit.


Was dann kommt, ist reine Radler-Freude: auf kleinsten Sträßchen bergab durch ein enges Tal. Lamas machen Mittagspause im Schatten, Mühlen liegen idyllisch hingetupft am Bach, es ist einfach nur wunderbares Rollen-lassen.


In Hatzenport holt uns dann die Realität wieder ein. Wir sind so beschwingt, dass wir auf die Mithilfe der Bundesbahn verzichten und erstmal die Weiterfahrt an der Mosel angehen. Natürlich sind wir nicht die einzigen an diesem Sonntagnachmittag. Nachdem uns die fünfte Motorrad-Kavalkade in Lärm und Abgase gehüllt hat, wechseln wir auf die andere Moselseite, deutlich weniger Verkehr, aber auch deutlich weniger Radweg.


Wir überholen einen dieser hässlichen Flusskreuzfahrtkästen, am nächsten Fotostopp schiebt er sich wieder an uns vorbei, aber wir sind zuversichtlich: die Mosel hat so viele Schleusen, da sind wir auf jeden Fall schneller in Koblenz.


In Alken gönnen wir uns im Turm-Restaurant der Burg Thurandt (das Radfahrer-freundlich direkt unten an der Mosel liegt) einen kleinen Moselwein und stellen fest, dass am späten Nachmittag die meisten Motorradfahrer wohl wieder auf dem Nachhauseweg sind. Wir kreuzen zurück und geraten in Winnigen mittten ins Weinfest, weiterkommen nur zu Fuß möglich in der fröhlich feiernden Menge. Angeblich das größte Weinfest der Mosel – und das nächste ist schon geplant!

Hinter Winnigen geht es kurz steil hoch in die Weinberge und da ist der Moselradweg dann so idyllisch wie wir uns das erhofft haben. Die prallen Trauben tanken den letzten Sonnenschein, die Reben klettern rechts von uns steil die Hänge hoch, links liegt tief unter uns der Fluss.


In Güls geht es über die Eisenbahnbrücke ins Rauental und am Bahnhof vorbei zu unserem Auto. Wie gesagt, alles hat reibungslos geklappt, wenn wir auch sagen müssen, dass 72 Kilometer eindeutig zu viel sind für uns und die Batterien. Am Auto angekommen stellen wir fest, dass Monsieur nicht nur nicht abgeschlossen hat, auch die Fahrertür hat er nicht zugeworfen. Aber selbst das – Nobelvorort oblige – führt nicht zu zu erwartenden Problemen, alles unberührt noch im Auto.


Wir fahren nachhause, langsam entspanne ich mich. Fast zuhause, was soll da noch schiefgehen?


„Was kochst du denn heute Abend?“, fragt Monsieur.


Achja…

Real-Satire


Wir haben es ja eh nicht so mit dem Frühaufstehen. Als wir heute morgen das Wetter sehen – 12°, dichter Nebel – beschließen wir spontan, den späteren Zug zu nehmen und drehen uns noch mal gemütlich um.


Um halb zehn stehen wir mit den Rädern auf dem Bahnsteig – nicht ohne Mühen, denn der Aufzug zu Gleis 2 ist defekt. Die Anzeige informiert uns, dass der frühere Zug in zwei Minuten einfahren wird, mit über 70 Minuten Verspätung. Wir grinsen uns an, da hätten wir uns schön geärgert, wenn wir tatsächlich so früh aufgestanden wären.


Das ist dann das letzte Grinsen, denn die Real-Satire beginnt. Der frühe Zug kommt nicht. Seine Verspätung wird immer länger, unser späterer Zug wird lapidar als „Fällt heute aus“ angekündigt. Zwischendurch wird ein Ersatzzug versprochen, der aber, so wird uns mitgeteilt, nur bis Andernach und keinesfalls zu unserem Ziel Mayen weiterfahren wird.
Ratlosigkeit macht sich breit unter den Wartenden. Irgendwann taucht am Horizont ein Zug auf, unendlich langsam quält er sich näher. Ich erwarte Ennio-Morricone-Musik, Tumble weeds, Indianerpfeile in den Türen, mindestens!, als er mit einem Seufzer vor uns seinen Geist aufgibt. Die Türen öffnen sich, Hunderte verärgerter Menschen stürmen auf den Bahnsteig, telefonieren, gestikulieren, diskutieren. Es stellt sich heraus, das dies der Zug vor dem frühen Zug ist , der vor inzwischen drei Stunden begonnen hat Pendler und Schüler einzusammeln. Niemand weiß, was mit den anderen Zügen passiert ist, sehr mysteriös.


Das Bahnpersonal informiert uns – mit für mich völlig unangebrachter Fröhlichkeit -, dass wir gar nicht erst nicht einzusteigen brauchen, da dieser Zug sowieso nicht weiterfährt, da er kaputt sei.

Ein Zug kaputt, einer ausgefallen, einer auf mysteriöse Weise nicht auffindbar, irgendwie scheint mit der Linie nach Mayen etwas ganz Grundsätzliches nicht zu stimmen.


Und nun?
Mit dem Rad nach Mayen? Nach Andernach? Rheinabwärts? Die Strecke mal ohne Regen? Ein bisschen langweilig. So richtig hübsch ist das Neuwieder Becken mit all seinen Industrieanlagen auch nichts. Bleibt immer noch das vielbeworbene UNESCO Weltkulturerbe Oberes Mittelrheintal mit all seiner Burgen- und Fachwerkromantik.


Um kurz vor zehn soll der Rheingau-Regio Richtung Frankfurt fahren, den könnten wir bis Kaub nehmen und von da nachhause radeln. Allerdings kommt der Zug auf Gleis 5 an und natürlich ist auch dieser Aufzug defekt. Monsieur schimpft nicht schlecht, bis wir die Fahrräder auf Gleis 5 haben.
Fünf Minuten vor Zugabfahrt kommt eine Durchsage, dass auf Gleis 5 nun der Zug von Neuwied ankomme. Tut er tatsächlich. Das könnte knirschen, wenn in zwei Minuten der Rheingau-Regio auf dem selben Gleis einfährt. Der Rheingau-Regio bekommt zu seinem Glück eine Gleisänderungsansage, zu unserem Glück Gleis 4 auf dem gleichen Bahnsteig. Der Zug kommt fast pünktlich, wenn auch aus unerwarteter Richtung. Aber was weiß denn ich, wie die Bundesbahn von hier nach Frankfurt kommen will, tröste ich mich beim Einsteigen. Der junge Mann auf den Radplätzen steht auf, er steige ja eh gleich in Koblenz aus. „Wieso Koblenz?“, fragen wir und ein Dutzend anderer Fahrgäste und können gerade noch wieder aussteigen, wo uns der Zugführer auf Zuruf bestätigt, dass, ja, dies ein Zug nach Koblenz sei, offensichtlich eine kleine liebevolle Überraschung der Bundesbahn für ihre verwirrten Fahrgäste.


Irgendwann kommt der Rheingau-Regio und wir steigen ein. Auf den Fahrradplätzen sitzen resolute Rentner, die auch nicht aufstehen wollen. Wir stehen also. Im mehrfachen Sinne. Erstmal in Lahnstein, dann vor Braubach, dann… Es gibt jedesmal eine „Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund“-Entschuldigung. Klingt für mich, als hätte der Fahrdienstleiter ein Büchlein mit Ausreden, die er nun durcharbeitet.
Völlig überraschend und eigentlich nicht mehr erwartet, erreichen wir dann doch noch Kaub und steigen aus. Der Bahnhof, verwahrlost, ungepflegt, hat zumindest eine Rollstuhlrampe.
Natürlich nicht an unserem Gleis.


Wir sind vor acht Monaten in dieses für uns „Ausland“ zurückgekehrt. Ganz ehrlich, so richtig überzeugend finde ich das Land bis jetzt (noch) nicht.


Aber da war doch noch was…
Achja, die Radtour: Die Fähre bringt uns auf die linke Rheinseite, der sehr nette Schiffer preist uns ein Doppelticket für die Rückfahrt auf der Bopparder Fähre an, das wir nicht brauchen, Eisenbahnbrücke vor Koblenz…
„Koblenz? Das sind 50 Kilometer! Das wissen Sie schon?“, sorgt er sich um uns. Wissen wir, können wir. Die Batterien sind aufgeladen, die Strecke fast flach, das ist alles kein Problem.
Wenn da nicht dieses UNESCO Weltkulturerbe Oberes Mittelrheintal wäre, das uns dauernd Hindernisse in den Weg schiebt. In Oberwesel etwa den Rundgang auf der mittelalterlichen Stadtmauer oder die überwältigend schöne Liebfrauenkirche.

Vor St. Goar – Ich weiß nicht, was soll es bedeuten – die Aussicht auf den Loreleifelsen oder bei Rheinkilometer 560 den Blick auf jenes wunderliche Kirchlein, das man nur durch die benachbarte Kneipe betreten kann. Interessanter theologischer Ansatz.


Dass wir in Boppard nicht ohne einen Kuchenstopp über den Marktplatz kommen, ist uns klar. „Torten Träume“ bietet das Café an. Monsieur kann romantisch sein, sehr, doch, ja, aber heute grummelt er, dass ihm Torten Realitäten lieber wären.
So gestärkt gehen wir die letzten Kilometer an und kommen mit Tachostand 50 auf dem Bahnhofsparkplatz bei unserem Auto an.

Am Freitag werden wir der Bundesbahn eine weitere, eine letzte Chance geben uns nach Mayen zubringen.
Danach pfeifen wir auf umweltfreundliche Alternativen und nehmen das Auto für die gesamte Anfahrt. So!

Hat funktioniert, der Plan

Natürlich nicht der, der den Zugwechsel in Limburg vorsah. Wäre ja auch zu einfach gewesen und wahrscheinlich auch vollkommen naiv von unserer Seite, das anzunehmen. Fünfzehn Minuten Spielraum, der Anschlusszug am gleichen Bahnsteig, nur auf der anderen Seite, wie soll das klappen? Wahrscheinlich nur, wenn man – so wie wir – noch eine völlig romantisierende Vorstellung einer zuverlässigen und pünktlichen Bahn hat. Denn natürlich hat unser Zug 13 Minuten Verspätung und der andere Zug einen Gleiswechsel aufs übernächste Gleis.
Wir sind nicht die einzigen, die in Limburg wie katapultiert aus dem Zug stürzen. Gut zwei Dutzend Menschen – mit Rucksäcken, mit Wanderstöcken, mit Fahrrädern, ja, einer trägt sogar ein Faltkanu in einer Tasche, die Paddel im Rucksack – sprinten auf die Treppen zu, um mit einem kollektiven „Arrrgghhh!“ stehen zu bleiben, als auf dem Nachbargleis der Zug anfährt.


Sozusagen der Bahn gewordene grinsend gezeigte Stinkefinger.


Natürlich sind wir alle verärgert, frustriert, enttäuscht. Wer richtig wütend ist, ist die Schaffnerin, die sich mächtig aufregt, dass der Zug nicht die drei Minuten warten wollte. „Ist doch nur ein Regio, ist ja schließlich kein IC!“, beendet sie ihre Tirade. Wir nehmen es philosophisch, vielleicht haben wir hier und heute den einzigen – fast bin ich versucht zu sagen „den einzigsten“ – pünktlichen Zug der Bundesbahn gesehen.


Unser Plan ist erstmal gescheitert. Wir „machen“ gerade die Lahn, in Scheibchen. Lahnstein-Dausenau war letztes Jahr, Dausenau-Obernhof letzten Montag und heute Weilburg-Obernhof. Oder auch nicht. Gut, Weilburg dann eben nicht, aber auf Runkel hatte ich mich sehr gefreut, das will ich mir nicht von der Bundesbahn nehmen lassen.

Also müssen die Ardenner richten, was die Bahn verbimst hat. Wir machen uns von Limburg auf in Richtung Runkel, bevor es dann – fast plangemäß – zurück nach Obernhof gehen soll.


Der Morgen ist noch frisch, die Ardenner und wir auch, da schiebt uns Dietkirch hoch oben auf einem Bergsporn die Lubentius-Kirche dazwischen. Das machen wir.
Ein freundlicher Mensch hängt vor der Kirche BUND-Plakate auf und verspricht ein Auge auf die Ardenner zu haben, ohne mühsames Schlösser aus den Radtaschen kramen.


Die Kirche ist romanische Klarheit, wenn sie auch hier und da in den Seitenkapellen Spuren von Barock versteckt haben. Ein Organist übt Tonleitern, zwischendurch explodieren himmeljauchzende Tonfolgen. Das Musikfeuerwerk, die reine Schönheit des Raumes, wir sind begeistert. Als wir dem Organisten in einer Pause eine „Danke schön“ hochrufen, kommt ein etwas ratloses „Wofür?“ zurück.


Kurz vor Runkel haut es mich in einer engen Wende heftig gegen ein Geländer. Ich stürze, Plastik knackt, die Kette springt raus und ich bin mit weichen Knien dem Geländer sehr dankbar, dahinter geht es fünf Meter tief auf die Bahntrasse. Aber wir (ähm, nun ja, „wir“ …) haben den Schaden schnell behoben und die Burg in Runkel ist dann so bezaubernd schön, dass das Missgeschick schnell vergessen ist. Mittelalter-Romantik vom Feinsten mit Fachwerk, Efeuranken und bunten Fenstern, gekrönt von einem hohen Bergfried. Die fünf Stockwerke engster Treppenstufen sind das Anstrengste an diesem Tag – aber welche eine Aussicht.


Fast so schön wie die Kuchentheke im Altstadt-Café eine Straßenecke weiter. Wir entscheiden uns dann doch für ein eher deftiges Mittagessen. Monsieur liebäugelt noch kurz mit einem Kuchen, aber das wäre wohl zuviel des – offensichtlich sehr – Guten.


In Limburg ist inzwischen die Stadt erwacht und beim Samstagsspaziergang. Auf dem Radweg tummeln sich viele Menschen mit und ohne Räder oder Kinderwagen, dazwischen genauso viele Kinder mit oder ohne Bobby-Cars, Dreiräder oder Tretroller. Wir fädeln uns vorsichtig durch, gönnen uns einen kurzen Blick auf die Altstadt und verpassen unter einer sehr hässlichen Brücke fast die Auffahrt auf eben diese sehr hässliche Brücke. Stadtdurchfahrt, naja, meist nicht so schön. Diez kann das noch toppen mit langwierigen Bergauf-Umwegen, für die die paar Fachwerkhäuser in der Altstadt nicht wirklich entschädigen.


Aber das liegt schnell hinter uns, denn das Etappenziel lockt, das Stellwerk im Bahnhof Balduinstein. Genauergesagt, die Kuchentheke im Bahnhofscafé. Die Kuchen sind durchnummeriert. Vielleicht, um die – meist holländisch sprechenden – Touristen nicht mit Maracuja-Kirsch-Kokosraspel-Torte zu überfordern. Vielleicht auch, weil die Besitzerin keine Lust, jeden Morgen solche Wortungetüme wie Rhabarber-Baiser-Cheesecake auf Schildchen zu schreiben. Monsieur entscheidet sich jedenfalls für Nummer 2, ich für Nummer 5, Sportlernahrung vom Feinsten.


Dann dürfen wir einen Kompromiss fahren. Irgendwo zwischen Geilnau und Laurenburg wohnt ein seltener Schmetterling, der in seinem bunten Treiben nicht von dem vorbeiradelnder Menschen gestört werden wollte. Deshalb mussten die Menschen eine sehr lange, sehr steile und sehr verkehrsreiche Straße nach Holzappel hochstrampeln, um auf der anderen Seite den dito Abstieg zu bewältigen.
Irgendwann haben Radler und Schmetterlinge mit Hilfe des Landes Rheinland-Pfalz einen Kompromiss gefunden und so können wir über zwei Brücken und ein Stück funkelnagelneuen Radwegs auf der anderen Lahnseite im Tal bleiben, schön flach. Ich hoffe, es freut die Schmetterlinge nur halb so sehr, wie es mich gefreut hat.

Kloster Arnstein ist eine wunderbare Anlage hoch über der Lahn. Meine Eltern haben dort geheiratet, weshalb das Kloster für mich eine besondere Bedeutung hat.
Der Ort im Tal dagegen, Obernhof, ist nicht nur der End-, sondern leider auch der Tiefpunkt der Tour.
Wir hatten geplant, dort nach sechzig Kilometern für die letzten Kilometer zum Bahnhofsparkplatz in Nassau in die Bahn zu steigen. Die Batterien zeigen noch zwei Striche, meine persönliche Anzeige eher weniger.


Die Lahnbrücke in Oberhof wird repariert, die Straße ist aufgerissen, kein Durchkommen möglich. Eine Fußgänger“Umleitung“ zum Bahnhof ist ausgeschildert: über einen mit zerfahrenem Bauschutt und Schotter gefüllten LKW-Wendeplatz, zwischen zwei engen Absperrgittern zu einem Stück Wiese an der Lahn. Dort vier Treppenstufen hinunter, auf einem Stück gepflasterten Treidelpfad unter der Brücke hindurch und auf der anderen Seite wieder erst über Wiese, dann Schutt und Schotter, bis am Bahndamm dann tatsächlich eine lange Rampe den Zugang zum Gleis ermöglicht.


Für uns mit den Fahrrädern eine Herausforderung, für Eltern mit einem Kinderwagen eine Zumutung, aber für Menschen mit Gehbehinderung oder im Rollstuhl schlichtweg eine Unverschämtheit an Gedankenlosigkeit.


Ich bin also schon nicht richtig gut gelaunt, als mich die Tristesse des mit kniehohen Disteln bewachsenen Bahnsteigs anspringt. In dieser deprimierenden Umgebung auf den Zug warten? Nein, dann lieber nochmal aufs Rad und auf das Energiepotential, das Kräftereservoir der reinen Sturheit setzen.


Reine Sturheit kann meine Laune immer beträchtlich verbessern. So endet unsere Tour mit einem befriedigt gelachten „Geht doch!“ in Nassau – und das lange bevor unser Zug in Obernhof hätte einfahren sollen.


Monsieur hebt die Räder auf den Fahrradträger und die dunkle Gewitterwolke, die uns seit einer Stunde folgt, dreht ab.
Das war so geplant. Heute haben wir nämlich die Regencapes eingepackt, planend, hoffend, wissend, dass wir sie dann wohl nicht brauchen werden.
Hat funktioniert, der Plan.

Fast genauso


Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See…

Gut, es sind Beeren, keine Birnen und sie sind rot, nicht gelb und sie hängen nicht in den See, sondern über die alte Bahntrasse von Bassenheim nach Münstermaifeld. Aber ansonsten ist es fast genauso wie bei Herrn Hölderlin.


Die gleiche Mischung aus üppiger, praller Herbstpracht und leichter Melancholie, die Freude über den gut gedeckten Tisch der Natur und die leichte Wehmut der „Herr-es-ist-Zeit.-Der-Sommer-war-sehr-groß“-Abschiedsstimmung der schon abgeernteten Felder.


Der Sommer war bis jetzt vor allen Dingen nass, aber heute schaffen wir es tatsächlich, im Sonnenschein durchs Maifeld zu radeln. Das Maifeld liegt nur gerade ein paar Schritte westlich der Pellenz und ist ganz sanft gewellte Lieblichkeit. Die Radstrecke führt fast 20 Kilometer genauso leicht gewellt durch grüne Baum- und Heckentunnel, aus denen die rot-schwarze Pracht der Holunder- und Weißdornbeeren auf uns herabblickt. Feldwege schaffen Fenster mit weitem Blick übers Land. Schwarzgraue Steinbrocken am Wegrand erheben den Anspruch Kunst zu sein, berühren mich aber nicht so sehr wie das Wissen, dass für die Tiere der Tisch reich gedeckt sein wird.

Bevor das alles zu sehr ins Emotionale abgleitet, lockt der alte Bahnhof von Polch mit kühlen Getränken und deftigen Speisen.


Damit die 40 Kilometer hin und zurück nicht zu flach sind, führen uns unsere Begleiter am Ende der Tour noch zu einem gut gehüteten Geheimnis. Besser gesagt, sie verführen uns, die steile Straße in die Ortsmitte von Ochtendung hinabzusausen zur besten Eisdiele der Gegend.
Da ist dann nicht mehr die Rede von Herbstromantik und poetischer Wehmut, da müssen wir uns den praktischen Fragen des Alltags stellen: Holunder? Oder Erdnuss-Salzkaramell? Im Becher oder im Hörnchen? Schwierige Fragen.
Und die letzte: reichen die Batterien für die steile Rückfahrt?

Versicherungsschein


Rheinland-Pfalz ist großzügig. Für nur zwei Euro mehr als die Einzelfahrscheine von der Lahn nach Mayen kosten sollen, bietet das Rheinland-Pfalz-Ticket uns unbegrenzten Fahrspaß auf allen Linien. Wenn wir wollen, können wir für wenig mehr Geld sogar noch drei Kinder, drei Hunde oder drei Fahrräder zusätzlich mitnehmen. Unsere Kinder sind beschäftigt, Hunde haben wir keine und drei zusätzliche Fahrräder fände ich nun eher unpraktisch. Auch das unbegrenzte Fahren ist eigentlich nicht geplant. Genau genommen ist Rheinland-Pfalz-Ticket so etwas wie ein Versicherungsschein, ein Maskottchen, ein Amulett, ein Regenzauber. Nur wirklich notwendig, falls wir wegen Regens nicht mit dem Rad zurückfahren wollen.
Der ist mit <1mm, 42% Wahrscheinlichkeit für den Nachmittag vorhergesehen, das ist ein Risiko, das wir eingehen können.


Die Bahn bringt uns erstaunlicherweise pünktlich nach Mayen, wo uns etliche Wegweiser vor dem Bahnhof erwarten, einer mit etwas, das wie eine explodierende Kartoffel mit Armen aussieht. Das ist aber Vulkanius, das Maskottchen des Vulkanparks und folglich unseres Vulkanparkradwegs.
Wir folgen dem kleinen Kerl aus Mayen hinaus in die Pellenz, zwischen von der Natur geschaffenen Vulkankegeln und vom Menschen geschaffenen Industriegebieten. Es ist schwierig, Fotos von der Landschaft zu machen, ohne eine Kiesgrube, ohne einen Steinbruch aufs Bild zu bekommen.


Nach ein paar Kilometern wird es aber so idyllisch wie gehofft. Der Weg führt durch Felder an Bachauen entlang. Graue Basaltkreuze stehen hingetupft in die Landschaft, der schwarz-trutzige Tuffstein lässt Bauernhöfe wie mittelalterliche Wehrburgen aussehen.


Das alles fast ohne Steigungen, Fahrrad fahren wie ich es liebe.


Vor Plaidt machen wir einen Abstecher zum sehr sehenswerten Römerbergwerk in Meurin. Beim Bimsabbau (oderirdisch) brach ein Bagger ein und man entdeckte unterirdisch den von Tunneln und Höhlen durchzogenen uralten Tuff-Steinbruch der Römer. Das alles wird sehr schön dargestellt. Physikalische Spielereien fordern auf, die Ingenieursleistungen zu bewundern. Bei Flaschenzügen und Sägewerken können wir selber Hand anlegen, sogar eine frühe Küchenmaschine zum Teigkneten können wir bewundern.


Nur eines bringt Punktabzüge: kein Museumscafé. Zwar gibt es ein paar Tische und Bänke im Eingangsbereich, aber das ist es dann auch. Als wir fragen, ob wir dort unsere Butterbrote auspacken dürfen, kramt der Mann an der Kasse eine Kaffeemaschine aus einem Schrank und bringt uns zwei Tassen. Während er uns Anekdoten zum Museum erzählt, beobachtet Monsieur mit einem Auge den Regenradar. Eine beindruckend bösartige Gewitterfront kommt beeindruckend schnell auf uns zu und bald können wir den Regen auf das Tragedach der Museumshalle prasseln hören. „Ach was,“ winkt der Herr ab, „das ist nur der Wind. Wenn das wirklich Regen wäre, könnten Sie kein Wort mehr verstehen.“


Um drei Uhr sollte die Regenfront durch sein. Abwarten und aussitzen oder weiterfahren? Und was ist, wenn der Regenradar genauso zuverlässig ist wie die <1mm, 42% -Vorherssage.
Wir wagen es, im leichten Nieselregen geht es an der Nette entlang nach Weißenthurm, vielleicht ja doch nur <1mm, 42% . Die Bahnhofsstraße lockt kurz mit der Alternative, aber die Ausstrahlung des Rheins ist größer. Selbst als drei Männer, die uns diskutierend überholen, beschließen, abzubrechen und den Zug zu nehmen, bleiben wir stur.


Orientierung ist jetzt einfach, immer am Wasser entlang, erst Richtung Moselmündung, die Mosel überqueren, dann wieder am Rhein entlang bis zur Horchheimer Eisenbahnbrücke um zu kreuzen und zur Lahnmündung zu kommen. Alles ganz einfach, bis es dann doch sehr, sehr viel Wasser wird. Nicht links von uns im Rhein, nein, von oben und kurz darauf auch von unten, weil es eh sinnlos ist, den Pfützen auszuweichen. Wir sind sowieso schon klatschnass. Natürlich haben wir zwei bunte Regencapes, die uns von Kopf bis Unterschenkel abdecken, die liegen – wahrscheinlich schadenfroh kichernd – zuhause in einer Schublade.


Die Rheindörfer ziehen vorbei, ein kleiner sehnsuchtsvoller Blick auf unser Lieblingsrestaurant in Kaltenengers. Aber wer will schon zwei klatschnasse Gäste die Sitze volltropfen haben? Wir verwerfen auch die Zug-Option, lieber im Regen die Muskeln bewegen als klatschnass auf zugigen Bahnsteigen stehen. Inzwischen sind wir so im Endorphin-Rausch, dass wir nur noch lachen können über das Wetter.

Natürlich gibt es keine Fotostopps mehr.
Die alte Römerbrücke im Regen – müsst ihr euch vorstellen.
Das Deutsche Eck im Regen – müsst ihr euch vorstellen.
Das Koblenzer Schloss und die Rheinanlagen im Regen – müsst ihr euch vorstellen.

Etwas ärgerlich ist allerdings, dass Koblenz mit diversen Bauarbeiten in den Rheinanlagen uns zu langwierigen Umwegen zwingt, so als sei der Regen nicht genug. Irgendwie schaffen wir es über die Eisenbahnbrücke auf die andere Rheinseite, wo wir dann durch Lahnstein abkürzen. Johanniskloster kennen wir, das brauchen wir nicht im Regen.


Inzwischen ist es auch später Nachmittag, der Wind unfreundlich kalt und ich habe ein Mantra: mein Auto hat Sitzheizung. Ja, mein Auto hat Sitzheizung und da ist es mir völlig egal, dass es Hochsommer ist in Deutschland, das ist die Motivation, die mich die letzten Kilometer antreibt.


Wenig später stehen wir nach 62 Kilometern vor meinem Auto: sehr nass, sehr müde und sehr, sehr glücklich und stolz.

Ach, Annette!

Die Windböen zerren meine Haare in alle möglichen – und einige schier unmögliche – Richtungen und ich muss an Annette von Droste-Hülshoff denken, die „einem artigen Kinde“ gleich, nur heimlich ihr Haar flattern lassen darf im Winde. Als ich das Gedicht zum ersten Mal gelesen habe, war ich voller Zorn und Empörung auf die Gängelung, die Unterdrückung, die Ungerechtigkeit. War unzufrieden mit der Welt und ihren Normen, aber auch mit Annette, die „nur heimlich“ wagte, aufzubegehren und sich aufzulehnen. Ach, Annette! Heute hat sie mein Mitgefühl und eine gewisse erleichterte Dankbarkeit, dass zumindest mir keiner vorschreibt, ob und wann der Wind mein Haar zersauseln kann. In all diesen poetischen Gedankenkuddelmuddel hinein klopft mein Unterbewusstsein an, klopft nochmal an und spricht und ist so stur, dass ich irgendwann hinhöre und mir etwas klar wird.

Das ist dann der Moment, in dem die ganze Wilde-Haare-Poesie den Bach runtergeht und ich Monsieur, der vor mir radelt, zurufe, dass ich wohl irgendwo meinen Fahrradhelm habe liegen lassen. Monsieur – ganz der Gentleman – schlägt vor, dass er zurückfährt und sucht.

Das möchte ich aber nicht. Erstens habe ich es vermasselt und sollte es nun auch „entmasseln“. Zweitens wollen wir mit dieser kurzen Tour antesten, wie Monsieurs vor sechs Monaten gebrochenes Bein auf Radfahren reagiert, da muss er keine Extratouren fahren.

Monsieur – nun ganz der Genießer – akzeptiert mit einem „Dann setze ich mich solange in die Sonne.“

Mein Helm wartet ruhig und entspannt auf mich in L’Abbaye, wo wir eine kurze Pause gemacht haben, um diese kleine Mogelpackung zu bestaunen. Von der ganzen namensgebenden Abtei steht neben dem Turm nämlich nur noch ein einzelner Spitzbogen, der allerdings sehr romantisch am Seeufer. Das hat den großen Vorteil, dass man den hässlichen Klotz der Nobeluhrenschmiede im Ort nicht sehen kann. Andere noble Namen kreuzen unseren Weg auf dieser Radtour rund um den Lac de Joux, Kernland der „Haute Horlogerie“, der hohen Uhrmacherkunst. Ein kleiner Blick – völlig neidfrei – ins Internet zeigt, dass unsere ersten drei Autos – zugegebenermaßen alt und gebraucht gekauft – weniger gekostet haben – zusammen – als ein Einsteigermodell dieser noblen Unternehmen.

Mit Helm – und ohne flatternde Haare – mache ich mich ein drittes Mal auf die Strecke von L’Abbaye nach Le Sentier, im Hinterkopf die Warnung von 17tobak auf der Informationstafel an der Abtei: man solle sich nicht ohne Waffe auf diesen Weg begeben, da es ein Wolfsland sei, in dem es zudem nur so von Bären wimmle.

Die Schweiz hat wohl eher Angst vor anderen Feinden, dass sie quer durch die Landschaft vom See zum romanischen Turm diese Panzersperren baut, die aber in der Romandie eher verniedlichend nur „Toblerone-Linie“ genannt werden.

Auf der anderen Seeseite bedarf es dieser Sperren nicht, da spielt der See „Lofoten“, was uns heute Morgen zu der Erkenntnis bringt, dass eine Tour rund um einen See herum nicht unbedingt nur radeln im Flachen bedeutet.

Monsieur, der völlig ahnungs- und somit wehrlos in der Sonne sitzt, wartet aber von Bären und Wölfen unbeschadet auf mich und wir schließen den Rest der Rundfahrt ab. Über die Straße, denn der Holzsteg, der durch die sumpfigen Uferzonen des Lac de Joux führt, ist nur für Fußgänger freigegeben. Das führt natürlich zur Planung für den nächsten Tag, die einen lockeren Wechsel von Auto, Rad und Wanderschuhen vorsieht, für den Vormittag.

Und dann spricht Monsieur das Zauberwort: „Romainmôtier“, verbimst es aber sofort mit der prosaischen Ansage von 600 Höhenmetern.

Mal sehen, aber ich glaube, das wird nichts, jedenfalls nicht mit dem Rad.

Radweg-Lehrling

Im Frühstückssaal des Hotels hängt ein Spruch:

Nos menus sont comme la vie: ce qu’arrive n’est pas forcement ce que tu attends.

Unsere Menüs sind wie das Leben:  was kommt/passiert, ist nicht unbedingt das, was du erwartest.

Das könnte unser Leitmotiv für heute werden.

In Frankreich gibt es diese lustigen gelben Straßenschilder mit der Information: „Trous en formation“, Löcher in der Ausbildung, also Löcher-Azubis oder Löcher-Lehrlinge. Wir haben in 35 Jahren Frankreich nicht herausgefunden, was das Ziel dieser Ausbildung ist, nur dass sowohl die Löcher-Azubis als auch die Schilder sich rasend schnell vermehren.

Vielleicht hätten sie zu Beginn der Voie Bleue auch so ein Schild aufstellen sollen: Velo-route en formation. Für uns ist die Teilstrecke Lyon-Macon nämlich ein Radweg in der Ausbildung, ein Radweg-Lehrling sozusagen.

Dementsprechend sind unsere Erlebnisse heute eine sehr durchwachsene Mischung aus reiner Radel-Freude, „das hat schon viel Schönes“ und „da geht aber noch was, oder?“.

Der Start in Lyon hat schon leicht groteske Züge. Das, was die Stadt Lyon als Radweg nach „Confluences“, dem Dreieck zwischen den zwei Flüssen ausweist, ist ein schmaler Streifen auf einer vierspurigen Ausfallstraße, nur durch eine gelbe Linie getrennt. Nachdem die dritte Großbaustelle uns mit massiven Betonblock-Absperrungen in den fließenden Verkehr zwingt, haben wir genug und biegen kurz entschlossen in die nächste Straße rechts ab, queren das Dreieck an der Basis, vorbei am „Orange Cube“, zum Saône-Ufer. Da ist es dann wunderschön ruhig, in dem alten Industriehafen-Gebiet, das nun durch moderne Neubauten zum Kulturviertel wird. Natürlich radeln wir erstmal an die Spitze, vorbei am Cube Vert. Es ist nicht so ganz klar, welcher Cube von welchem Cube abgekupfert hat, dass sie „von einander inspiriert“ sind, lässt sich nicht leugnen.

An der Spitze radeln wir erst noch ein paar Minuten Rhone-aufwärts, zum einem um sagen zu können: an der Rhone bis zur Saône-Mündung gefahren, zum anderen, weil wir uns die eindrucksvolle Architektur des Confluences-Museums ein bisschen näher ansehen wollen – nur von außen heute.

Dann kommt das Startfoto auf unserem Radweg-Lehrling. Im Internet hat die Voie Bleue Lyon-Luxemburg einen tollen Auftritt mit Fotos der Wegweiser mit ihrem hübschen Logo und den Kilometerangaben für die nächsten Etappen. Hier in Lyon ist davon weit und breit nichts zu sehen. Das ist nicht weiter schlimm, der Fluss ist Wegweiser genug, also folgen wir ihm aus Lyon hinaus. Es geht flott voran auf breiten gekiesten Parkwegen, die ihre ganz eigenen Gefahren bergen. Aber wir lernen schnell, die Boule spielenden alten Männer weiträumig zu umfahren und auf keinen Fall dem „Cochon“, der kleinen roten Kugel, zu nahe zu kommen. Das alles unter freundlichen „Bonjour“ und „Bonne route!“ Rufen, schließlich sind wir nicht in Paris.

Ein paar Kilometer hinter Lyon lockt Paul Bocuses Nobel-Restaurant uns nicht wirklich. Noch viel zu früh, außerdem haben wir gar keine Zeit für vielgängige Menüs und überhaupt freuen wir uns schon auf die Mittagspause in einer der vielen „Ginguettes“ am Saône-Ufer. Das sind kleine Restaurants, die ihre Tische direkt ins Gras am Ufer stellen, les pieds dans l’eau, im Schatten mächtiger Maulbeerbäume und die bei den Öffnungszeiten den schönen Nachsatz haben: wenn es nicht regnet.

Idyllisches Radeln unter uralten Platanen auf geteerten Treidelpfaden wechselt ab mit Rückenfolter auf schlaglöchrigen Feldwegen. Weite Flussauen mit uralten Scheunen gehen über in Industriegebiete und in Jassans-Riottier verbockt es der Radweg-Lehrling fast. Immer noch schild- und hinweislos zeigt der GPS-Track den Weg mitten im Fluss an. Auf der Karte sehen wir, dass er irgendwo durch das Industriegebiet gehen muss, nur wo? Wir sind etwas ratlos, da fährt der neben uns geparkte LKW los und wir sehen eine schmale Öffnung zwischen zwei hohen Mauern – bingo. Kurz darauf weitet sich der Weg wieder und es geht durch frisch gemähte Wiesen, über die Dutzende von Störchen staksen, weiter.

Vor Trevoux lockt ein Restaurant am Ufer. Eine große Gruppe schmaust fröhlich am langen Tisch, wir wollen – müde, verschwitzt, durstig – nur etwas trinken. Die Kellnerin bürstet uns brüsk ab: Küche wäre schon zu, Bar, also nur Getränke, machen sie nicht und überhaupt hätten sie schon geschlossen.

Wir müssen so maßlos enttäuscht ausgesehen haben, dass der Chef kommt und uns zum Nachbartisch führt. Solange die anderen noch feiern würden, könnten sie eh nicht schließen und was wir denn bitte schön gerne trinken würden. Es kommt das woher? und wohin? und als wir von der Voie bleue erzählen, ist er etwas erstaunt: die wäre doch noch gar nicht in Betrieb, der Abschnitt Macon – Lyon würde doch erst im Herbst offiziell eröffnet. Was nun einiges erklärt.

Unser Hotel für die Nacht hat den Begriff „Charme“ im Namen, entpuppt sich aber als eine äußerst charmebefreite Ansammlung von kleinen Bungalows. Auch die Dame am Empfang ist uncharmant bis ruppig. Die Zimmer sind so „groß“, dass man bei geöffneter Badezimmertür nicht zum Bett kommt. Wir kommen zu der Überzeugung, dass sich das „charme“ ausschließlich auf die Hainbuchen (le charme) im Park der Anlage bezieht.

Als wir vom Essen zurückkommen, verschließt ein mannshohes Tor den Zugang zum Hotel. Ganz offensichtlich hatte die Dame am Empfang „vergessen“ uns den Code für das Tor mitzuteilen. Wir sind kurz davor, es mit drüberklettern zu versuchen, da wird endlich auf unser Sturmklingeln reagiert. Die Dame öffnet uns, ohne Gruß, ohne Entschuldigung, nur mit dem Vorwurf, wir hätten sie aus den hinteren Bereichen der Anlage hierhin gejagt.

Wahrscheinlich kommt sie aus Paris.

Ohne Orks und Drachen

Wir packen die letzten Dinge in die Fahrradtaschen und ich habe ständig ein Bild vor Augen:

Bilbo Beutlin, der aufgeregt winkend durchs Auenland läuft und seinen Nachbarn zuruft: „I’m going on an adventure!“ Ein kleines bisschen fühle ich mich wie er, was natürlich sehr vermessen von mir ist.

Erstens gehen wir nicht auf eine unerwartete Reise, sie ist durchaus geplant. Zweitens hängt nicht die Zukunft einer ganzen Zwergennation von dieser Radtour ab und drittens werden wir wohl kaum gegen Orks und/oder Drachen zu kämpfen haben. Hoffe ich jedenfalls. Nein, bin ich mir eigentlich sicher. Ziemlich sicher…

Also eher ein Mini-Abenteuer für uns.

Nunja, mit Mini-Drachen, zum Beispiel in Gestalt des TER-Zuges nach Lyon, vier hohe Stufen vom Bahnsteig ins Abteil, sehr enge Tür – und davor wir mit vier Fahrrädern. Bis wir uns überlegt haben, wo und wie wir die Räder hochhieven, haben andere erfahrenere Radfahrer ihre Räder auf die zwei (2!) Haken pro Waggon gehängt, so dass für uns nur das Parken im Gang in Frage kommt. Der Schaffner will meckern, aber da die Räder nun just genau unter dem Fahrradsymbol am Fenster stehen, gibt er nach und flirtet lieber mit den fröhlichen Mädels zwei Sitzreihen weiter. Deshalb liebe er seinen Beruf, erklärt er, die meisten Reisenden wären gut gelaunt, wären höflich mit Bonjour und Merci und S‘il vous plaît. Also hier in der Provinz, setzt er nach. In Paris, ja, in Paris, also da wäre das ja ganz anders, in Paris. Sprichts und sprintet an uns vorbei zur Abteiltür, reißt ein Telefon vom Hörer und verkündet schwungvoll die Einfahrt in den Provinzbahnhof von Ich-weiß-nicht-wo. Stürzt aus dem Zug, läuft am Waggon vorbei, springt ins Gras hinter dem Bahnsteig (es ist ein sehr ländlicher Provinzbahnhof), kontrolliert nochmal seinen Waggon, bläst voller Begeisterung in seine Trillerpfeife und sprintet zurück in unser Abteil. Kurzum, er wirkt wie jemand, der mit fünf Jahren beschlossen hat, dass Schaffner sein Traumberuf ist und sich nun jeden Tag daran erfreut. Definitiv kein Ork!

Lyon-Hauptbahnhof begrüßt uns mit Umbauchaos, aber wir finden die Radwege zum Place Bellecour. Dies sei der größte und schönste Platz Lyons, den können wir auf dem Weg ins Hotel schon abhaken. Ja, groß ist er der Platz, sehr groß, aber kein „und“, nicht für mich. Als wir kurz die Helme abnehmen, taucht ein Kamerateam auf und möchte uns vor laufender Kamera zu brennenden Fragen interviewen. Unser Argument, dass wir als Deutsche vielleicht nicht die richtigen Ansprechpartner seien, wird als irrelevant weggewischt, mein Argument, dass ich nicht verschwitzt und mit vom Helm zerzausten Haaren im Fernsehen gezeigt werden will, widerspruchslos akzeptiert.

Kurz danach wird uns im Hotel eine kleine Seitentür geöffnet, die direkt in einen Viktor-Hugo-Roman führt. Durch schmale Gänge, vorbei an alten ausgetretenen Treppen schieben wir die Räder in einen winzigen Hof, das 19. Jahrhundert schaut aus den Nachbarhäusern auf uns herab. „Und hier ist Ihr Backstage-Pass,“ sagt die Rezeptionistin und zeigt uns die Abkürzung durch Küche und Keller zur Rezeption.

Lyon macht uns ein Angebot, das wir nicht ablehnen können. Für 1,90€ so lange und so weit fahren, wie wir in einer Stunde wollen, mit welchen Verkehrsmittel auch immer. Das mit lang und weit nutzen wir nicht aus, zwei Stationen Metro bis Bellecour, eine bis Vieux Lyon, aber dann wechseln wir in die Funiculaires de Fourviere, die Zahnradbahn hoch zum Aussichtsplateau über Lyon. Die tolle Aussicht über das Dächergewirr der Altstadt ist das eine, aber dann gibt es da ja noch die Kathedrale. Meine Freundin versucht mich zu warnen, ja, selbst die Kathedrale versucht mich zu warnen (Plakette, dass sie 1870 gestiftet wurde, zum Dank, dass Lyon vom preußischen Heer verschont blieb), aber ich schlage beide Warnungen in den Wind.

Augenblicke später muss ich einen Lachanfall unterdrücken, so unfreiwillig komisch ist das pompöse Geschwurbel im Inneren der Kirche. Der Kitsch ist so überwältigend, dass sogar Monsieurs Handy sich erstmal weigert, das auf ein Bild zu bannen. Irgendwann gelingt es Monsieur, wenigstens einen schwachen Abklatsch der goldlastigen Bombastigkeit aufzunehmen, dann sind wir ganz schnell, immer noch mit dem Lachen kämpfend, wieder draußen. Ganze drei Schritte hatte ich ins Mittelschiff getan, mehr habe ich nicht geschafft.

Dafür bezaubern uns die Gassen und Gässchen der Altstadt mit ihrem „Les Miserables“-Flair. Wir gönnen uns eine Pause, Monsieur bestellt ein Bier. „Pinte ou demi?“ fragt die Bedienung, „demi“ bestellt Monsieur und will kurz darauf etwas perplex wissen, weshalb in einem „demi“ nur ein Viertelliter Bier sei. Die Bedienung wirft die Hände hoch: „C’est la France, monsieur!“ Als unsere Freundin dann vom badischen „halben Viertele“ erzählt, wird uns die kulinarische Bruchrechnung doch zu kompliziert und wir begnügen uns damit, den „traboulés“ zu folgen. Wie der geneigte Asterix-Leser sich erinnert, haben diese versteckten Gänge zwischen den Häuser- und Straßenreihen schon die römischen Legionen in die Verzweiflung getrieben.

Wir hingegen folgen ihnen vergnügt im Zick und Zack von einer Straße zur anderen, bevor wir vor der gotischen Kathedrale landen. Die ist nun eher unser Geschmack, überrascht aber mit Zettelwirtschaft. An jeder der zahlreichen Säulen hängt ein fotokopierter Zettel: „Harmonie! Silence absolue, svp!“ Nun ist mir schon verständlich, dass zum Beispiel in einer Beziehung absolute Stille der Harmonie gelegentlich durchaus zuträglich ist, aber hier? Des Rätsels Lösung liegt in den seltsam fragenden, klagenden Tönen aus dem Mittelschiff. Die Kathedrale hat zwei Orgeln und deren Organisten stimmen sie im Wechselspiel fragend angespielter Noten und knappem „Stopp“ auf einander ab.

Und hier begegnen wir unserem Mini-Ork: Eine resolute Dame marschiert lautstark telefonierend durch die Kirche, völlig unberührt von den Zisch- und Psst-Lauten ihrer Mitmenschen. Sie ist so in ihrem selbstsüchtigen Verhalten versunken, dass sie mich anrempelt. Ich fahre sie an, sie solle mit dem Telefonieren aufhören, das sei schließlich eine Kirche. Sie faucht zurück, das sei kein Grund für mich, nicht erstmal mit „Bonjour“ zu grüßen. Da hat sie natürlich recht, schließlich sind wir in der Provinz, nicht in Paris.

Immerhin knallt sie frustriert ihr Handy in ihre Tasche und stürmt aus der Kirche. Ich drehe mich zu Monsieur um und sehe hinter ihm eine Gruppe Menschen mir freundlich zunicken und dann mit erhobenen Händen applaudieren. Lautlos, natürlich, in absoluter Stille. Wegen der Harmonie.