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Carl Ludwig mit Likörchen

Natürlich sei es eine Liebesheirat gewesen, sagt „Charlotte“ mit verzücktem Lächeln. Ihr Carl Ludwig sei aber auch ein ganz besonderer Mensch. Vom Bäckergesellen zum Königlich Preußischen Oberhüttenbauinspektor, das solle man sich erst einmal vorstellen, solch einen Werdegang. Leider sei das aber auch der Grund, weswegen ihr werter Herr Gemahl, Carl Ludwig Althans, uns nicht selbst empfangen könne, hier im Herzstück seines Schaffens, er sei auf Inspektionsreise zu den Siegerländischen Eisenhütten und Gießereien.

Wir sind auf einer Kostümführung in der Sayner Hütte, allerdings nicht zu den trockenen Fakten wie Baujahr, jährlicher Ausstoß oder Spannweite der beeindruckenden Werkhalle. Uns führt – in prachtvoller bodenlanger Robe – „Charlotte“, die werte Gemahlin des Gründers, der es natürlich mehr um den Menschen hinter der Leistung geht.

Welcher aber leider verhindert ist, weshalb sie uns als kleine Entschädigung erstmal ein Likörchen kredenzt. Nicht ohne vorher seufzend über das Personal zu klagen, das doch tatsächlich den letzten Rest Pfirsichlikör ausgesüffelt hätte, weshalb sie uns nun leider den Traubenlikör kredenzen müsse.

Eigentlich müsste sie es ja entlassen, das Dienstmädchen, aber wir wüssten ja selber, wie schwierig es sei, gutes Personal zu bekommen. Wir nicken verständnisvoll.  

„Charlotte“ führt uns über den Hof zur Gießerei von 1830, Industriearchitektur vom Feinsten. In der lichten Halle bekommen wir erst den erstaunlichen Werdegang eines einfachen Bäckerjungen dargelegt, der über Stipendien Mathematik und Bergbauwesen studieren konnte und eine rasante Karriere hinlegte. Der, ein verzückter Augenaufschlag „Charlottes“, solch eine Persönlichkeit sei, dass er vor Antritt der Stelle in Bendorf-Sayn seinem Arbeitgeber eine sechsmonatige Studienreise durch Europas Industriegebiete abringen konnte. Auf der er fleißig skizzierte und Ideen sammelte, die er später in seinem eigenen Werk umsetzte in neue Erfindungen und Maschinen. Hier kommt der erste Missklang, denn ihr Carl Ludwig habe diese Erfindungen immer stolz im „Technischen Journal“ – dass wir ja sicher auch lesen würden, selbstverständlich, nicken wir, jeden Morgen, zum Frühstück – veröffentlicht. Leider ohne sie vorher patentieren zu lassen, weshalb andere, weniger ehrenhafte Menschen… „Carl Ludwig, habe ich immer gesagt, Carl Ludwig, du musst Patente anmelden!“ Wir können uns die Diskussionen am Abendbrottisch lebhaft vorstellen.

Aber bald ist wieder alles verliebtes Entzücken, denn ihr Carl Ludwig ist auch Sozialreformer. Schafft mit der luftigen Architektur einen lichterfüllten Arbeitsplatz, lässt in einer eigenen Werksschule Nachwuchs heranziehen und Fachkräfte ausbilden.

Natürlich ist nicht alles nur eitel Sonnenschein. Ein während der Führung immer mal wieder anspringendes Tondokument erfüllt den Raum mit dem ohrenbetäubenden Tosen der Hochöfen. Auch die Tatsache, dass oben, auf dem hohen Hochofen, mechanische Hämmer Kalkgestein für den Schmelzprozess zerschlagen, lässt „Charlotte“ schaudern. Auf der ungesicherten Plattform sitzen 5- bis 6-jährige Kinder, denn nur ihre Hände sind klein und flink genug, um zwischen den zwölf Mal pro Minute herunterfallenden Hämmern die Gesteinsbrocken zu bewegen.

Zum Abschluss bringt „Charlotte“ uns ins Magazin, sozusagen der Katalog der Sayner Hütte. Dass nur Sayn mit einer acht Meter tiefen Gießgrube ­– natürlich eine Erfindung ihres Carl Ludwigs – in der Lage war, ebenso lange Kanonenrohre zu gießen, erfüllt sie mit Stolz, dass der preußische König die Sayner Kanonenrohre denen seiner eigenen Berliner Gießerei vorzog, mit diebischer Freude.

Ein bisschen zynisch finde ich dann schon, dass die Sayner Hütte neben Kanonenrohren auch filigranen Trauerschmuck in schwarzem Gusseisen herstellte. Beides genoss in Preußen, das ja praktisch ständig irgendwo mit irgendwem im Krieg war, sicher große Nachfrage.

Mit einem letzten verliebten Augenaufschlag zeigt uns „Charlotte“ noch eine andere Facette ihres Carl Ludwigs, der eben auch Bolleröfen gießen ließ, den Schinkel seine Entwürfe zu Wendeltreppen und Gartenstühlen umsetzen ließ und der das Leben der Hausfrauen am Herd einfacher machte mit so innovativen Haushaltsgeräten wie dem im Herd integrierbaren Waffeleisen oder dem Kaffeeröster.

Sie entlässt unsere sehr kleine Gruppe, wir sind zu fünft, Monsieur der einzige Mann, mit einem weiteren bezaubernden Lächeln: wir sollten uns ruhig umschauen, sicherlich würde uns doch das eine oder andere hochwertige Objekt gefallen – natürlich nur echt mit dem Stempel der Sayner Hütte.

Eine Viertelstunde später sehen wir sie, in Jeans und Turnschuhen, vor einer Dreißiger-Gruppe im Hof stehen und trockene Fakten zu „der letzte Trierer Kurfürst 1796“ weitergebend.

Kein verliebtes Lächeln weit und breit und ein Likörchen schon gar nicht.

Im Lande des doppelgeschweiften Löwen

Ja, ich weiß, das klingt jetzt recht exotisch, Richtung Südostasien oder zumindest Seidenstraße.

Deutlich fremdländischer jedenfalls als „Westerwald“. Ist aber der offizielle Titel dieser „E-Bike-Traumtour“ von und bis Hachenburg. Das Städtchen soll sehr schön sein, weiß Monsieur, allerdings springt zuerst so gar kein Funke über. Kein Wunder, parken wir doch am Bahnhof, an der Industriezone. Die liegt aber schnell hinter uns und schönste gelbgetupfte Wiesenlandschaften vor uns.

Das Kloster Marienstatt imponiert mit der weisen Entscheidung, den barocken Bauwillen nur an den Wohngebäuden auszutoben.

Was mir aber noch viel mehr zusagt, ist der Klostergarten mit seinen Heilkräutern, die Grünflächen mit den hineingetupften blühenden Apfelbäumen – und mein heimlicher Held des Tages (neben Monsieur natürlich). In geradezu philosophisch-stoischer Ruhe zieht ein Mähroboter seine Bahnen über die sehr großen Rasenflächen. Zieht und stoppt und wendet und mäht weiter, unbeirrt und unverzagt, wohl ahnend, dass er, kaum mit dem einen Teilstück fertig, am anderen Ende wieder anfangen kann. Ein kleiner tapferer Sisyphus der Gartenarbeit.  

Auf der alten Brücke kreuzen wir die Große Nister und ein paar steile Straßenkilometer bringen uns nach Limbach ins Tal der Kleinen Nister. Streithausen verdankt seinen Namen sicher einem uralten keltischen Ursprung, der nichts mit dem heutigen Wort … Jedenfalls können wir uns ohne Streit auf die Weiterfahrt einigen. Atzelgift gibt uns eine weitere Möglichkeit über Ortsnamen und ihre Bedeutung nachzudenken, bis wir ein paar Momente still im Ehrenhain innehalten. Kriegerdenkmäle ziehen mich an, die Zahl der Namen, oft aus ein und derselben Familie, die Tragödien und der unendliche Schmerz hinter den dürren Angaben berühren mich, auch wenn die meist sehr martialische oder kriegsverherrlichende Formsprache der Denkmäler mich eher abstößt. Hier trifft es mich unverhofft und sehr tief. Die Figuren stehen locker gruppiert auf einer Waldwiese am Bach. Zeitlos und doch – leider wieder – sehr aktuell zeigen sie das Leid aller: die wartende Frau, der traumatisierte Rückkehrer, Familien, die vergebens hoffen.

Der Weg führt uns weiter durch große Wälder und auf ein – verzeiht die Analogie – weiteres Schlachtfeld unserer Zeit. Wir fahren an langen, mehrere Meter hohen Holzstapeln vorbei, säuberlich aufgestapeltes Waldsterben, fein aufgeräumter Klimawandel. Wobei ich nicht weiß, was mich mehr belastet: die Hektar um Hektar verwüsteter, abgeholzter Fläche, auf der der eine oder andere Überlebende einsam seine Äste in den Himmel streckt oder das traurige Mahnmal der abgestorbenen Nadelholzwälder, die als graue tote Flächen im sanften Grün der austreibenden Laubwälder stehen.

Bad Marienberg hatten wir für die Mittagspause angedacht, aber nicht mit unseren Trödeleien gerechnet. Es ist also schon zu spät für die meisten Restaurants. Deshalb gönnen wir uns in einem typisch deutschen Spezialitätenrestaurant eine typisch deutsche Spezialität: „einmal Döner mit alles“.

Das gibt uns dann Kraft für den Rest der Tour. Wir kommen unbeschadet an der Schnapsbrennerei in Nistertal vorbei, aber dann ist Monsieur zu schnell mit dem Abbiegen. Ich habe den Wegweiser gesehen, aber darauf vertraut, dass Monsieur schon weiß, was er tut. Erst als wir im Hof einer Industrieanlage stehen, kommen ihm Zweifel. Dieser Abstecher gibt mir dann den Mut, Monsieur bei der nächsten Kreuzung zurückzurufen. Ja, beide Wegweiser zeigen nach Alpenrod und ja, der linke Weg ist auf der Routenführung eingeplant. Aber da steht auch Alpenrod 9 km, 13% Steigung. Rechts hingegen heißt es Alpenrod 12 km, 6% Steigung. Anbetracht der Anzeige unserer Batterien, der Quengelei unserer Wadenmuskeln und der sich doch langsam einstellenden Müdigkeit entscheiden wir uns weise für den rechten Weg. Der führt uns dann durch den niedlichen Ort Dehlingen, der über eine „Stadtstraße“ verfügt sowie einen riesigen Kreisverkehr. Daran gelegen ein Brunnen und ein Gemeinde-Backhaus. Der Termin für das nächste gemeinsame Backen ist schon angeschlagen. „Es sollte Ihnen nicht Wurst sein, wer Ihr Brot bäckt“, steht auf einem Schild.

Das andere Ende von Hachenburg empfängt uns mit viel Fachwerk und einem sehr schönen Freiluft-Museum – notiert für ein anderes Mal, denn jetzt steht uns der Sinn mehr nach einem Weizenbier auf dem Marktplatz.

Unter dem wachsamen Blicken des doppelgeschweiften Löwen genießen wir die Sonne, bis Monsieur beschließt, dass wir jetzt noch gerade zum Schloss hochfahren soll. Spricht’s, steigt auf sein Rad und sagt „Oh, Batterie tot!“ Das ist aber nicht weiter schlimm, denn vom Schloss bis zum Bahnhof geht es nur noch bergab. Allerdings muss Monsieur einen Gutteil der Strecke schieben. Pistazie-Zitrone in einem Hörnchen auf einem Fahrrad auf Kopfsteinpflaster ist eine ganz dumme Kombination, also schieben wir einträchtig bis wir wieder am Bahnhof sind, nach 52 Kilometern, 600 Höhenmetern, zwei Dönern, zwei Weizenbier und einem Eis.

Achja, eine Stunde später sitzen wir auf der Terrasse eines uns empfohlenen Golfhotels beim Apero. Da fällt mir ein und auf, dass gerade jetzt eigentlich mein Gymnastikkurs beginnen würde.

Hmmm, Aperol Spritz mit Blick auf den Golfkurs geht durch als Sport, oder?

Irgendetwas mit Wein

Monsieur erzählt mir etwas von einer Wanderung mit Wein, die Veranstalter nennen es „Mittelrheinischer Weinfrühling“, irgendetwas mit Wein, also.

„Viel zu überlaufen“, sagen die Nachbarn rechts. „Tut euch das nicht an.“

„Wir fahren hin“, sagen die Nachbarn links. „Wollt ihr mitkommen?“

Und schon sind wir überredet.

Ja, es ist voll, als wir mit dem Shuttle-Bus zum Endpunkt fahren. Es ist voll, als wir an der Schranke mit gefühlt Hunderten Wanderlustiger die Durchfahrt von zwei ICs abwarten und es ist voll, als wir uns dann am ersten Stand anstellen. Dort werden nämlich die Gläser verkauft, komplett mit einer sinnigen Halterung aus Lederkreis und Schuhriemen, die den freihändigen Transport der Gläser um den Hals ermöglichen.

Wir bekommen auch eine kleine Karte mit den 20 Ständen zu Wein und Kulinarik und treffen dort die Freunde der Nachbarn.

Dann profitieren wir von der Erfahrung der anderen, die wissen, bei welchen Ständen es lohnt zu halten und wo man das eher nicht muss. Insgesamt sind wir sehr brav, ganz besonders unser Nachbar, der sich an Mineralwasser hält. Nach dem zweiten Gläschen kommt zwischen Stand 6 und 10 eine sprichwörtliche Durststrecke, aber die hat mit dem Stand des Weingut Didinger ein Ende. Von dort aus können wir allerdings sehen, dass die Menschendichte inzwischen erheblich zugenommen hat auf den Wegen vorbei an Stand 11 bis 20. Was wir auch hören können, ist, dass ein nicht unerheblicher Teil dieser Menschen sich mit tragbaren Boxen ausgestattet hat. Die haben vom Design her nichts mehr mit den „Ghettoblastern“ unserer Jugend gemein, machen aber die gleiche Menge Krach.

Wir beschließen also auf den ein paar Höhenmeter oberhalb verlaufenden Rheinsteig auszuweichen, von wo wir die bunte Menschenmenge immer noch sehen, aber nicht mehr hören können.

Und so schließen wir den Mittelrheinischen Weinfrühling ab mit einer Wanderung oberhalb der Weinberge, was ja schließlich auch irgendetwas mit Wein ist.

Fingergymnastik

Wetter brummelt: „Ich kann’s ja mal versuchen.“ Um dann mürrisch nachzusetzen: „Aber versprechen tu ich nix!“

Entsprechend frisch ist es am Wanderparkplatz Oberlahnsteiner Forsthaus. Der Parkplatz ist sehr groß, etwa in der Mitte, halb versteckt hinter Stapeln gefällter Bäume, stehen zwei Wegweiser verloren in der Gegend herum. Ja, sie tragen Hinweisschilder und sie zeigen auch irgendwo hin, nur ist nicht so ganz klar, welche der Wege man ihnen zuordnen soll.

Ist aber nicht weiter schlimm, Monsieurs Lebensgefährtin weiß das und so beginnt der erste Teil der Fahrradtour zur alten Nassauischen Bahntrasse, Streckenabschnitt nach Braubach.

Ich würde jetzt gerne schreiben, dass wir radeln, aber es ist mehr Fingergymnastik an den Bremsen. In die Pedale treten müssen wir nicht, nur ab und zu mal bremsen, wenn die Pfützen zu schlammig werden, der Schotter sich für Treibsand hält.

Nach kaum fünf Minuten hält Monsieur und weist nach rechts. „Der Beweis“, meint er und zeigt auf die Brückenpfeiler, die dort verloren im Bachtal stehen. Als ob ich es ihm nicht ohnehin geglaubt habe, was er auf der ersten Bahntrassen-Wanderung herausgefunden hatte. Wirklich erstaunlich ist doch eher, dass wir schon jetzt an der Stelle sind, an der wir vor ein paar Tagen kehrt gemacht am – am gegenüberliegenden Ufer. Am hiesigen Ufer beginnt die alte Bahntrasse.

Auf unseren Streifzügen durch den Taunus haben wir festgestellt, dass etwa 90% der Bäche auf den phantasievollen Namen „Mühlbach“ hören und so beschließen wir einfach, dass auch dieser, einst von der Brücke überquerte, Bach ein Mühlbach sei. Die Trasse folgt ihm in Richtung Rhein. Ein Ponyweg kreuzt – ausführlich beschildert – unseren Pfad, aber die Ardenner bleiben als Kaltblüter auf der Bahntrasse. Kurz vor Braubach biegt der breite Weg im spitzen Winkel zu einer Mühle ab. Die Bahntrasse geht natürlich geradeaus weiter, allerdings als überwachsener Trampelpfad in der Mitte der Trasse. Kniehohes Gras, noch Regen-nass vom nächtlichen Gewittersturm, schlägt gegen die Waden, gelegentlich steigt Monsieur ab, um dickere Äste aus dem Pfad zu ziehen. Schließlich mündet der Pfad auf die Straße. „Nass. Bahntrasse“ steht dort auf einem handgeschnitzten Schild. Stimmt, nass war sie, die Trasse, im letzten Abschnitt.

Braubach ist dann Rheinromantik pur. Die Marksburg thront über dem Städtchen, ein mittelalterliches Stadttor lässt uns eintreten, Fachwerkhäuser neigen ihre Giebel rechts und links über die Gassen.

Am Marktplatz gönnen wir uns eine Pause, während die Intercitys und Güterzüge gefühlt direkt an unserem Tisch vorbeibrausen. Angeblich hätten die Hoteliers der Rheinromantik-Örtchen in den 1860ern darum gebeten, die Gleise direkt vor ihren Terrassen zu verlegen, um ihren Gästen das „atemberaubende Schauspiel der vorbeibrausenden Lokomotiven“ – Inbegriff des Fortschritts – zu ermöglichen. Ja, hätten sie das noch mal zu machen…

Mit der Philippsburg zeigt Braubach, dass es auch Renaissance kann und dann sind wir auf dem Rheinradweg. Obwohl das hinter Braubach eher eine Vertrauenssache ist: rechts ist der hohe Damm der viel befahrenen Bundesstraße, links der hohe Damm, der vor Hochwasser schützen soll, da müssen wir einfach darauf trauen, dass wir am Rhein entlang fahren.

Lahnstein ist durch Großbaustellen und Umleitungen gleich chaotisch für Auto- wie für Radfahrer, aber hinter der Lahnbrücke geht es dann auf den stillen und recht romantischen Lahnradweg. Bei Friedrichssegen kreuzen wir zurück auf die andere Lahnseite und müssen uns dann den Tatsachen des Lebens stellen. Dass so ein Fluss ja meist unten, im Tal, der Ausgangspunkt unsere Radtour aber oben auf den Lahnhöhen liegt.

Vielleicht könnte man Blood, Sweat and Tears überreden eine leicht modifizierte Version des Spinning Wheel aufzunehmen. Statt “What goes up must come down” eher etwas in Richtung “What rolls down, must – ähhh -strampel up”.

Radfahrerhymne…

Nassauische K(l)einbahn

In das tolle Museum in Neapel hatten wir es ja nicht mehr geschafft, dafür wirbt in Nastätten das „charmanteste Museum der Region“ um unseren Besuch.

Charmant ist es wirklich und zwei Damen vermitteln sehr kompetent und begeistert ihr Wissen zum „Blauen Ländchen“. Wenn die Herstellung des blauen Farbstoffes auch eher abschreckend klingt – ich sage nur: Waid (ok, aber dann kommt’s:), Urin (in großen Mengen) und dicke Maden in demselben (fragt bitte nicht weiter) – bin ich jetzt angemeldet für einen Waid-Färber-Kurs.

Blaue Textilien sind einer der Schwerpunkte dieses sehr liebevoll ausgestatteten Museums, die Nassauische Kleinbahn ein anderer. Die Bahn gibt es nicht mehr, aber ihre Trasse wird als Wander- und Radweg beworben. Das wollen wir erstmal zu Fuß austesten, bevor wir die Ardenner auf den Fahrradträger hieven.

Auf dem Parkplatz am Friedhof von Becheln fotografieren wir den eingezeichneten Rundweg ab, unsere Wander- bzw. Radweg-Apps kennen ihn nicht. Die ersten Zweifel kommen uns schon nach den ersten hundert Metern. Am Wanderplatzschild hing ein fotokopierter Zettel für „Erst-Wanderer“, ein Wort, das ich bis dato auch noch nicht kannte, mit detaillierten Hinweisen zu Be01-03 als „Zuwanderungen“ zur Bahntrasse. Nur lassen sich in der realen Natur des Taunus keine Wegzeichen, ja fast keine Spuren eines Wanderweges finden. Monsieur will trotzdem diesen Pfad rechts am Feldrain nehmen, der steil nach unten führt. So etwas macht mich immer misstrauisch. „What goes up, must come down“, singen Blood, Sweat and Tears, aber in unserem Fall ist es ja eher umgekehrt: was wir bergab gehen, müssen wir später mühsam wieder hochlaufen. Unser Auto kommt leider nicht, wenn wir pfeifen.

Tatsächlich mündet der Pfad auf eine breite Trasse – wir haben sie gefunden, die Bahnstrecke der Nassauische Kleinbahn. Auf der Trasse ist fein wandern, unterbrochen von Tafeln zu Geschichte und Geschichten der Bahn. Dass die Bauern im Dorf A ihr Land der Bahn unentgeltlich zur Verfügung stellten, unter der Bedingung, dass Dorf A einen Bahnhof erhalte und dieser auch einen beheizten Warteraum haben müsste. Dass dafür im Dorf B ein Bollerofen im Bahnhof abgebaut worden sei, jener Ofen aber nie im Dorf A angekommen sein. Intrigen über Intrigen! Dann kommen mehrere Tafeln mit zeitgenössischen Fotos zu umgekippten, zusammengestoßenen, von den Gleisen gesprungenen Zügen. Wir bekommen den Eindruck, dass diese tolle neue Technologie noch nicht wirklich beherrscht wurde.  Von den Krawallen der betrunkenen Bahnbauarbeiter, die auch mal mit Dynamitstangen – angezündeten! –  um sich warfen, ganz zu schweigen. Sehr schön in diesem Zeitungsbericht, die Erwähnung, dass die „sehr resolute Wirtin“ die Situation in den Griff bekam – lange bevor die Polizei kam.

Die tief in den Hang eingeschnittenen Abschnitte der Trasse erklären das Vorhandensein der Dynamitstangen und lassen uns über die Arbeit der Landvermesser nachdenken, die in dieser Gegend der steilen Bachtäler eine geeignete Streckenführung suchen mussten. Um 1903 war sie fertig, die Kleinbahn, Ende der 1970er wurde sie eingestellt, also keine Bahn mehr, aber die Trassen wurden in Wirtschaftswege umgewandelt.

Wir laufen an den Be01- und Be02-Abzweigungen vorbei, wir wollen die Be03-Variante am Mühlbach entlang zurück nach Becheln nehmen. Just dort kreuzt ein Viadukt den Bach, aber der Bahntrassen-Wegweiser zeigt links auf ein paar sehr steile Holzbohlen-Treppenstufen bergab. Über den kleinen Bach suchen wir uns einen – eher feuchten – Übergang, dann geht es weitere Holzbohlen-Stufen hoch und da ist sie dann wieder, die Trasse. Monsieur – immer der kleine Forscher – will nun wissen, weshalb der Umweg und geht nachforschen. Er kommt zurück mit der Erkenntnis, dass eine Brücke, von der nur noch die Pfeiler stehen, eine Überquerung für Mensch und Fahrrad eher unangenehm gestalten würde.

Aus der Gegenrichtung kommt ein Mountainbiker angekeucht und bestätigt uns, dass diese kleine Passage die einzig unangenehme auf dem weiteren Weg nach Braubach am Rhein sei.

Das hört sich doch ganz gut an, so ein paar Treppenstufen sollten die Ardenner schaffen.

Die ersten Etappen der Radtour sind somit gesichert und wir machen uns mit Be03 auf den Rückweg zum Auto. Allerdings hat Be03 seine eigenen Vorstellungen dazu, was ein Wanderweg sein soll. Er sieht sich eher als Trimmpfad. Umgestürzte Bäume zwingen zum Drüber- oder Drunterdurch-Steigen, abgebrochene Wegränder zum Balancieren auf schmalen Pfadresten, es ist sehr kurzweilig.

Irgendwann wird der Weg dann wieder breiter, dafür bietet ein alter Stollen Höhlenforscher-Abenteuer am Wegrand. Uns ist mehr nach Waldromantik, wenn auch das Leben für Monsieur eine herbe Enttäuschung parat hält. Der hatte nämlich auf der abfotografierten Wanderkarte vier Teiche als Forellenzucht interpretiert mit Gedankenspielen, die in Richtung eventuell zu kaufender Forellen gingen mit weiterführenden Ideen zu Mandelbutter und Petersilienkartöffelchen.

Aber das Leben kann ja so uneinsichtig sein und die Forellenzucht entpuppt sich als die Kläranlage der Gemeinde mit algen- und wasserlinsenbedeckten Klärteichen. Wirklich gemein!

Der Rückweg aus dem Tal ist so steil wie befürchtet, aber irgendwie schaffen wir das, mit dem festen Entschluss, der Kleinbahn bis Braubach zu folgen. Von da aus entlang des Rheinradweges und der viel größeren – und leider auch lauteren – Trassen von Bundesbahn und Bundestraße bis Koblenz und dann wieder nach Hause.

Jetzt müssen wir nur noch das Wetter überreden mitzuspielen.

Hügelinchen

Bahrom erwartete uns auf der tadschikischen Seite der Grenze, unser Führer für die Tage in Tadschikistan. Es ist also Bahrom, den ich frage, wie sie die Berge im Hintergrund nennen. Es ist Bahrom, der darauf grinsend antwortet: „Diese Berge nennen wir Hügel.“ Denn in Tadschikistan gilt alles unter 3000 Metern Höhe nicht als Berg.


Würde mich mal interessieren, was Bahrom zu unseren deutschen Mittelgebirgen sagen würde. Die Eifel ein Gebirgelchen, der Hunsrück ein Hügelinchen?


In dieses Hunsrück-Hügelinchengewirr tief eingeschnitten sind Täler, die so viel mehr zu bieten haben als schroffe, kahle Berggipfel.


Wir haben uns die Ehrbachklamm ausgesucht. Als Rundwanderung, weshalb sie zur Ehrbachklamm-Traumschleife wird. Über die Traumsteige und -schleifen habe ich schon genug gelästert, aber hier ist der Zusatz Traum wirklich verdient.

Wenn man denn schwindelfrei ist und keine Höhenangst hat, sonst wird es schnell zum Alptraum.


Unsere Traumwanderung beginnt auf den Hunsrückhöhen inmitten von blühenden Ackerstreifen. Zwischen die Monokulturen von Mais und Rüben hingetupfte bunte Pinselstriche erfreuen das Auge und die Insekten: Ringelblume, Borretsch, Phacelis, klar, auch eine Menge Disteln und Habichtskraut. Solange das nicht in meinen Beeten blüht, finde ich es ganz hübsch.


Am Anfang der Schleife stehen viele Hinweisschilder, zur Streckenführung, zum Wert der Schleife, des Wanderns allgemein und ganz klein unten drunter das Höhenprofil. An einem Punkt, etwa zur Hälfte der Wegführung, muss es einen Aufzug geben. Anders ist es nicht zu erklären, dass die Linie (fast) senkrecht nach oben geht. Nunja, davor fürchte ich mich, wenn wir da sind.


Zuerst lockt der Rundweg mit bergab auf breiten Wegen. Im Tal wird es dann schnell abenteuerlicher. Kleine Leitern sind die Aufwärmübung, dann kommen Seilpassagen und wandern wird stellenweise zu klettern. Das alles eingebettet in die lichtflirrende grüne Märchenwelt der deutschen Laubwälder. Die Begleitmusik bietet der Ehrbach, mal fast lautlos, mal durchaus lebhaft. Sehr selten hört man eine menschliche Stimme, wenn der ein oder andere Mensch uns entgegenkommt. Die meisten mit diesem leicht verschämt wirkenden Grinsen reiner Freude auf dem Gesicht.


Die Klamm ist gut erschlossen und unterhalten, mit Stegen, Brücken, Seilen, Leitern. Das hilft besonders mir bei etwas delikateren Passagen, weil die Seile mir sagen, dass nicht nur ich hier ein bisschen weiche Knie bekomme. An einer Stelle allerdings wirkt der fünf Meter bachaufwärts liegende Steg so marode, dass wir lieber über die Steine durch den Bach hüpfen. Außerdem fünf Meter Umweg? Bergauf? Dann lieber durch den Bach!


Wir machen Rast an der Abzweigung zur Rauschenburg. Monsieur muss da hoch – ich nicht.

Er kommt zurück mit Bildern für mich und der Erkenntnis: „Steht nicht mehr viel!“ für sich.

Die Rast mit Stullen und Gurkenscheiben soll uns Kraft geben für das Aufzug-Stück. Es ist tatsächlich atemberaubend – wortwörtlich. Steil, steinig, rutschig, mit Seilen versehen ist es mir bei all meiner Flucherei und Schimpferei doch hundertmal lieber bergauf als bergab.


Irgendwann komme ich oben an, Monsieur wartet wie immer auf seine Nachzüglerin, nur um zu sehen, dass die freundlicherweise dort hingesetzte Bank schon besetzt ist, von einem Paar, das genauso erschöpft aussieht wie ich mich fühle.

Kein Problem, nur ein paar hundert Meter weiter (bergauf, aber nur noch „orange“ auf der App, nicht mehr „rot“) steht eine andere Bank mit berauschender Aussicht und einer Tafel. „Die Peedsches-Trampler“ informieren uns, dass sie es sind, die Pfade und Bänke unterhalten. Vielen Dank dafür!


Wir laufen auf der Höhe weiter, sehen auf der anderen Seite die Rauschenburg – das, was noch steht -, genießen das Gesamtkunstwerk der Natur. Die Weite des Landes, die Farben der Bäume, das Rauschen der Wälder und der Gesang der Vögel, der Geruch des Waldes an einem sommerheißen Tag, ein vielfältiges Feuerwerk an Eindrücken.


Tja, und dann verbimst die Natur es, indem sie uns zwei weitere Seitentäler in den Weg schiebt. Ich hasse es, einmal mühsam erklommene Höhenmeter wieder absteigen zu müssen, im Wissen, dass es auf der anderen Seite wieder hoch geht. Und das gleich zweimal hier.


Dafür gibt sich die Natur besondere Mühe, die Anstrengung lohnend zu gestalten. Die reine Vielfalt der Eindrücke ist überraschend: auf breiten Waldwege laufen wir durch lichte Laubwälder, kurz darauf klettern wir über klitschig-feuchte Felsstufen direkt im engen dunklen Bachtal.

Am Talgrund locken grüne Wiesen, gerahmt von hüfthohem Springkraut. Das Wasser reflektiert die Sonnenstrahlen und zaubert Bewegung auf die Moosflächen am Uferhang, aber bald müssen wir uns auf schroffe Felsspalten konzentrieren, um die Füße richtig zu setzen.

Ich komme vor lauter Schauen und Staunen fast nicht zum Mosern und Schimpfen ob der Höhenmeter.


Schauen und Staunen und Mosern und Schimpfen bringt uns hoch zum Winkelholzberg, Waldkindergarten der Gemeinde. Wie wundervoll muss es sein, hier seine Kindheit zu verspielen!

Wenig später kann ich am Auto die Wanderschuhe ausziehen. Ziemlich erschöpft, aber auch ziemlich glücklich.


Im Kopf schon das Menü für heute Abend: als primo mache ich Raddicchio-Risotte, secondo wird Saltimbocca sein mit ganz viel Salbeibutter. Den Nachtisch habe ich schon heute morgen vor der Wanderung gemacht: Espresso-Mousse, stilgerecht in kleinen Tassen serviert.
Haben wir uns verdient, das Menü.

Die Fakten

Die Traumschleife Ehrbachklamm wurde durch das Deutsche Wanderinstitut mit 98 Erlebsnispunkten bewertet. Länge 8,9 km, 390 Höhenmeter.

Ein bisschen beunruhigend


Irgendwie klappt das alles zu reibungslos. Es ist fast ein bisschen beunruhigend.


Wir sind heute morgen in diesen noblen Vorort von Koblenz gefahren, haben einen Parkplatz gefunden und die Räder abgeladen. Gut, Monsieur meint, er müsse mein Auto noch mal kurz umparken, weil es nicht korrekt genug geparkt ist für diesen noblen Vorort, aber dann geht es durch ein Sonntagmorgen-leeres Koblenz zum Bahnhof: grüne Welle an allen Ampeln.
Am Bahnsteig 5 ist zwar die Rolltreppe kaputt, aber ein freundlicher Mensch schickt uns zwei Ecken weiter zum Aufzug. Unsere Bedenken, durch die letzten Erfahrungen gestützt, werden mit einem empörten: „Das ist ein Hauptbahnhof hier! Natürlich funktioniert der Aufzug!“ weggewischt. Tut er tatsächlich.


Auf dem Nachbargleis läuft der zwei Stunden verspätete „Rheingold“ ein, auf nostalgischer Genussreise und ermöglicht uns einen kurzen Blick zurück in jene historischen Zeiten, als Bahnreisen ein elegantes Vergnügen war.


Der Zug nach Klagenfurt fällt ganz aus, der nach Dortmund hat mehrere Stunden Verspätung, aber unser Regio nach Mayen kommt pünktlich, ist völlig leer und fährt pünktlich ab. Wie gesagt, irgendwie seltsam. Ich habe das Gefühl, wenn ich mich umdrehen, wartet da etwas auf mich. Sturzregen, plötzlicher Zusammenbruch aller Bahnverbindungen, Problemchen, kleine Katastrophen, irgendetwas Unerwartetes, nicht unbedingt Angenehmes. Macht mich ein bisschen nervös…


In Mayen nehmen wir die inzwischen bekannte Strecke bis zu der Brücke, unter der wir uns beim ersten Mal auf dem Weg nach Weißenthurm verfahren haben. Diesmal geht es wirklich geradeaus weiter und die alte Bahntrasse wird zum Märchenwald. Inklusive der Drachenhöhle. Im realen Leben sind es zwei Eisenbahntunnel, die wir durchrollen, aber Drachenhöhle passt viel besser zum verzauberten Wald ringsum uns herum. Ab und an schießt ein Rennfahrer an uns vorbei, ansonsten sind wir weitgehend allein. Zwei hohe Eisenbahnbrücken bringen uns über tiefe Täler.

In Polch beschließt Monsieur, dass das gute Essen im alten Bahnhof nicht die einzige Attraktion des Ortes sein darf, schließlich bietet er die – angeblich – älteste Kirche der Eifel. Die kleine Kapelle ist sehr stolz darauf, einen römischen Grabstein als Türsturz zu haben und zeigt mit der gut sichtbaren Inschrift auch völlig ohne Scham, wem sie ihn geklaut haben. Faszinierender finde ich die Dutzende von kleinen Basaltkreuzen, die als Grabsteine zwar die Zahl, 1537 war der älteste, den ich finde, aber statt des Namens nur die Hausmarke tragen, hier eine Wolfsangel, da eine Raute oder eine Pfeilspitze.


Monsieur bietet mir noch mehr Kirchlein in Nachbarorten an, aber ich locke ihn mit der Eisdiele in Münstermaifeld. Das zieht immer. „Buttermilch-Himbeer-Torte“ heißt die Mogelpackung von Kuchen, die ich mir bestelle. Buttermilch, das ist leicht und fettarm, Himbeeren sind vitaminreich, man könnte fast glauben, dass das Ganze so richtig gesund ist.


Die Torte, die kommt, ist natürlich nicht ganz so kalorienarm wie angedeutet. Zwischen all das Leichte und die Vitamine haben sie eine Menge Schoko-Tortenböden geschichtet und das bis zu einer Höhe, die eher anderthalb Kuchen entspricht. Aber ich bin der Herausforderung durchaus gewachsen, außerdem brauchen wir ja auch Reserven für die nächsten Kilometer.


Die letzten haben wir nämlich kurz hinter Pillig aufgebraucht – für ein Missverständnis. Wenn ich Elzbachtal und Burg in einen Satz lese, ist das für mich natürlich Burg Elz. Für alle, die sie nicht kennen, schaut mal gerade im Portemonnaie nach, ob ihr noch zufällig einen 500-Mark-Schein drin habt. Genau, das ist Burg Elz. Die man laut Tourbeschreibung von Pillig aus sehen kann. In Pillig und um Pillig herum gibt es auch genug Wegweiser zu Wanderparkplätzen zur Burg Elz, es gibt auch einen Elz-Radweg, dem wir natürlich nicht folgen, da wir auf dem Maifeld-Mosel-Radweg sind.

Ich bin so überzeugt, dass wir die Burg Elz sehen werden, dass ich Burg Pyrmont einfach wegwinke: falsche Burg, die richtige kommt noch. Wir sausen die steile Abfahrt zur Pyrmonter Mühle hinunter (wohl wissend, dass wir später – nach der Burg Elz – das alles wieder hochfahren müssen) und Monsieur hält an, um kurz die Streckenbeschreibung zu kontrollieren. Da ist er dann, mein Fehler, natürlich steht da Elzbachtal und Burg, aber dahinter dann auch Pyrmont.

Tja, wer lesen kann, ist klar im Vorteil und hätte sich einige stramme Kilometer bergauf erspart. Denn eines ist klar: für die Pyrmont hätte ich diese Schleife nicht gemacht.


Das alles ist bei der Pause in Münstermaifeld schnell vergessen. Wir gönnen uns noch einen kurzen Blick in die imposante Stiftskirche, die irgendwie auch etwas Wehrhaftes, Burg-Ähnliches hat und nehmen die Feldwege bis Mörz in Angriff, das letzte bisschen bergauf für lange Zeit.


Was dann kommt, ist reine Radler-Freude: auf kleinsten Sträßchen bergab durch ein enges Tal. Lamas machen Mittagspause im Schatten, Mühlen liegen idyllisch hingetupft am Bach, es ist einfach nur wunderbares Rollen-lassen.


In Hatzenport holt uns dann die Realität wieder ein. Wir sind so beschwingt, dass wir auf die Mithilfe der Bundesbahn verzichten und erstmal die Weiterfahrt an der Mosel angehen. Natürlich sind wir nicht die einzigen an diesem Sonntagnachmittag. Nachdem uns die fünfte Motorrad-Kavalkade in Lärm und Abgase gehüllt hat, wechseln wir auf die andere Moselseite, deutlich weniger Verkehr, aber auch deutlich weniger Radweg.


Wir überholen einen dieser hässlichen Flusskreuzfahrtkästen, am nächsten Fotostopp schiebt er sich wieder an uns vorbei, aber wir sind zuversichtlich: die Mosel hat so viele Schleusen, da sind wir auf jeden Fall schneller in Koblenz.


In Alken gönnen wir uns im Turm-Restaurant der Burg Thurandt (das Radfahrer-freundlich direkt unten an der Mosel liegt) einen kleinen Moselwein und stellen fest, dass am späten Nachmittag die meisten Motorradfahrer wohl wieder auf dem Nachhauseweg sind. Wir kreuzen zurück und geraten in Winnigen mittten ins Weinfest, weiterkommen nur zu Fuß möglich in der fröhlich feiernden Menge. Angeblich das größte Weinfest der Mosel – und das nächste ist schon geplant!

Hinter Winnigen geht es kurz steil hoch in die Weinberge und da ist der Moselradweg dann so idyllisch wie wir uns das erhofft haben. Die prallen Trauben tanken den letzten Sonnenschein, die Reben klettern rechts von uns steil die Hänge hoch, links liegt tief unter uns der Fluss.


In Güls geht es über die Eisenbahnbrücke ins Rauental und am Bahnhof vorbei zu unserem Auto. Wie gesagt, alles hat reibungslos geklappt, wenn wir auch sagen müssen, dass 72 Kilometer eindeutig zu viel sind für uns und die Batterien. Am Auto angekommen stellen wir fest, dass Monsieur nicht nur nicht abgeschlossen hat, auch die Fahrertür hat er nicht zugeworfen. Aber selbst das – Nobelvorort oblige – führt nicht zu zu erwartenden Problemen, alles unberührt noch im Auto.


Wir fahren nachhause, langsam entspanne ich mich. Fast zuhause, was soll da noch schiefgehen?


„Was kochst du denn heute Abend?“, fragt Monsieur.


Achja…

Real-Satire


Wir haben es ja eh nicht so mit dem Frühaufstehen. Als wir heute morgen das Wetter sehen – 12°, dichter Nebel – beschließen wir spontan, den späteren Zug zu nehmen und drehen uns noch mal gemütlich um.


Um halb zehn stehen wir mit den Rädern auf dem Bahnsteig – nicht ohne Mühen, denn der Aufzug zu Gleis 2 ist defekt. Die Anzeige informiert uns, dass der frühere Zug in zwei Minuten einfahren wird, mit über 70 Minuten Verspätung. Wir grinsen uns an, da hätten wir uns schön geärgert, wenn wir tatsächlich so früh aufgestanden wären.


Das ist dann das letzte Grinsen, denn die Real-Satire beginnt. Der frühe Zug kommt nicht. Seine Verspätung wird immer länger, unser späterer Zug wird lapidar als „Fällt heute aus“ angekündigt. Zwischendurch wird ein Ersatzzug versprochen, der aber, so wird uns mitgeteilt, nur bis Andernach und keinesfalls zu unserem Ziel Mayen weiterfahren wird.
Ratlosigkeit macht sich breit unter den Wartenden. Irgendwann taucht am Horizont ein Zug auf, unendlich langsam quält er sich näher. Ich erwarte Ennio-Morricone-Musik, Tumble weeds, Indianerpfeile in den Türen, mindestens!, als er mit einem Seufzer vor uns seinen Geist aufgibt. Die Türen öffnen sich, Hunderte verärgerter Menschen stürmen auf den Bahnsteig, telefonieren, gestikulieren, diskutieren. Es stellt sich heraus, das dies der Zug vor dem frühen Zug ist , der vor inzwischen drei Stunden begonnen hat Pendler und Schüler einzusammeln. Niemand weiß, was mit den anderen Zügen passiert ist, sehr mysteriös.


Das Bahnpersonal informiert uns – mit für mich völlig unangebrachter Fröhlichkeit -, dass wir gar nicht erst nicht einzusteigen brauchen, da dieser Zug sowieso nicht weiterfährt, da er kaputt sei.

Ein Zug kaputt, einer ausgefallen, einer auf mysteriöse Weise nicht auffindbar, irgendwie scheint mit der Linie nach Mayen etwas ganz Grundsätzliches nicht zu stimmen.


Und nun?
Mit dem Rad nach Mayen? Nach Andernach? Rheinabwärts? Die Strecke mal ohne Regen? Ein bisschen langweilig. So richtig hübsch ist das Neuwieder Becken mit all seinen Industrieanlagen auch nichts. Bleibt immer noch das vielbeworbene UNESCO Weltkulturerbe Oberes Mittelrheintal mit all seiner Burgen- und Fachwerkromantik.


Um kurz vor zehn soll der Rheingau-Regio Richtung Frankfurt fahren, den könnten wir bis Kaub nehmen und von da nachhause radeln. Allerdings kommt der Zug auf Gleis 5 an und natürlich ist auch dieser Aufzug defekt. Monsieur schimpft nicht schlecht, bis wir die Fahrräder auf Gleis 5 haben.
Fünf Minuten vor Zugabfahrt kommt eine Durchsage, dass auf Gleis 5 nun der Zug von Neuwied ankomme. Tut er tatsächlich. Das könnte knirschen, wenn in zwei Minuten der Rheingau-Regio auf dem selben Gleis einfährt. Der Rheingau-Regio bekommt zu seinem Glück eine Gleisänderungsansage, zu unserem Glück Gleis 4 auf dem gleichen Bahnsteig. Der Zug kommt fast pünktlich, wenn auch aus unerwarteter Richtung. Aber was weiß denn ich, wie die Bundesbahn von hier nach Frankfurt kommen will, tröste ich mich beim Einsteigen. Der junge Mann auf den Radplätzen steht auf, er steige ja eh gleich in Koblenz aus. „Wieso Koblenz?“, fragen wir und ein Dutzend anderer Fahrgäste und können gerade noch wieder aussteigen, wo uns der Zugführer auf Zuruf bestätigt, dass, ja, dies ein Zug nach Koblenz sei, offensichtlich eine kleine liebevolle Überraschung der Bundesbahn für ihre verwirrten Fahrgäste.


Irgendwann kommt der Rheingau-Regio und wir steigen ein. Auf den Fahrradplätzen sitzen resolute Rentner, die auch nicht aufstehen wollen. Wir stehen also. Im mehrfachen Sinne. Erstmal in Lahnstein, dann vor Braubach, dann… Es gibt jedesmal eine „Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund“-Entschuldigung. Klingt für mich, als hätte der Fahrdienstleiter ein Büchlein mit Ausreden, die er nun durcharbeitet.
Völlig überraschend und eigentlich nicht mehr erwartet, erreichen wir dann doch noch Kaub und steigen aus. Der Bahnhof, verwahrlost, ungepflegt, hat zumindest eine Rollstuhlrampe.
Natürlich nicht an unserem Gleis.


Wir sind vor acht Monaten in dieses für uns „Ausland“ zurückgekehrt. Ganz ehrlich, so richtig überzeugend finde ich das Land bis jetzt (noch) nicht.


Aber da war doch noch was…
Achja, die Radtour: Die Fähre bringt uns auf die linke Rheinseite, der sehr nette Schiffer preist uns ein Doppelticket für die Rückfahrt auf der Bopparder Fähre an, das wir nicht brauchen, Eisenbahnbrücke vor Koblenz…
„Koblenz? Das sind 50 Kilometer! Das wissen Sie schon?“, sorgt er sich um uns. Wissen wir, können wir. Die Batterien sind aufgeladen, die Strecke fast flach, das ist alles kein Problem.
Wenn da nicht dieses UNESCO Weltkulturerbe Oberes Mittelrheintal wäre, das uns dauernd Hindernisse in den Weg schiebt. In Oberwesel etwa den Rundgang auf der mittelalterlichen Stadtmauer oder die überwältigend schöne Liebfrauenkirche.

Vor St. Goar – Ich weiß nicht, was soll es bedeuten – die Aussicht auf den Loreleifelsen oder bei Rheinkilometer 560 den Blick auf jenes wunderliche Kirchlein, das man nur durch die benachbarte Kneipe betreten kann. Interessanter theologischer Ansatz.


Dass wir in Boppard nicht ohne einen Kuchenstopp über den Marktplatz kommen, ist uns klar. „Torten Träume“ bietet das Café an. Monsieur kann romantisch sein, sehr, doch, ja, aber heute grummelt er, dass ihm Torten Realitäten lieber wären.
So gestärkt gehen wir die letzten Kilometer an und kommen mit Tachostand 50 auf dem Bahnhofsparkplatz bei unserem Auto an.

Am Freitag werden wir der Bundesbahn eine weitere, eine letzte Chance geben uns nach Mayen zubringen.
Danach pfeifen wir auf umweltfreundliche Alternativen und nehmen das Auto für die gesamte Anfahrt. So!

Hat funktioniert, der Plan

Natürlich nicht der, der den Zugwechsel in Limburg vorsah. Wäre ja auch zu einfach gewesen und wahrscheinlich auch vollkommen naiv von unserer Seite, das anzunehmen. Fünfzehn Minuten Spielraum, der Anschlusszug am gleichen Bahnsteig, nur auf der anderen Seite, wie soll das klappen? Wahrscheinlich nur, wenn man – so wie wir – noch eine völlig romantisierende Vorstellung einer zuverlässigen und pünktlichen Bahn hat. Denn natürlich hat unser Zug 13 Minuten Verspätung und der andere Zug einen Gleiswechsel aufs übernächste Gleis.
Wir sind nicht die einzigen, die in Limburg wie katapultiert aus dem Zug stürzen. Gut zwei Dutzend Menschen – mit Rucksäcken, mit Wanderstöcken, mit Fahrrädern, ja, einer trägt sogar ein Faltkanu in einer Tasche, die Paddel im Rucksack – sprinten auf die Treppen zu, um mit einem kollektiven „Arrrgghhh!“ stehen zu bleiben, als auf dem Nachbargleis der Zug anfährt.


Sozusagen der Bahn gewordene grinsend gezeigte Stinkefinger.


Natürlich sind wir alle verärgert, frustriert, enttäuscht. Wer richtig wütend ist, ist die Schaffnerin, die sich mächtig aufregt, dass der Zug nicht die drei Minuten warten wollte. „Ist doch nur ein Regio, ist ja schließlich kein IC!“, beendet sie ihre Tirade. Wir nehmen es philosophisch, vielleicht haben wir hier und heute den einzigen – fast bin ich versucht zu sagen „den einzigsten“ – pünktlichen Zug der Bundesbahn gesehen.


Unser Plan ist erstmal gescheitert. Wir „machen“ gerade die Lahn, in Scheibchen. Lahnstein-Dausenau war letztes Jahr, Dausenau-Obernhof letzten Montag und heute Weilburg-Obernhof. Oder auch nicht. Gut, Weilburg dann eben nicht, aber auf Runkel hatte ich mich sehr gefreut, das will ich mir nicht von der Bundesbahn nehmen lassen.

Also müssen die Ardenner richten, was die Bahn verbimst hat. Wir machen uns von Limburg auf in Richtung Runkel, bevor es dann – fast plangemäß – zurück nach Obernhof gehen soll.


Der Morgen ist noch frisch, die Ardenner und wir auch, da schiebt uns Dietkirch hoch oben auf einem Bergsporn die Lubentius-Kirche dazwischen. Das machen wir.
Ein freundlicher Mensch hängt vor der Kirche BUND-Plakate auf und verspricht ein Auge auf die Ardenner zu haben, ohne mühsames Schlösser aus den Radtaschen kramen.


Die Kirche ist romanische Klarheit, wenn sie auch hier und da in den Seitenkapellen Spuren von Barock versteckt haben. Ein Organist übt Tonleitern, zwischendurch explodieren himmeljauchzende Tonfolgen. Das Musikfeuerwerk, die reine Schönheit des Raumes, wir sind begeistert. Als wir dem Organisten in einer Pause eine „Danke schön“ hochrufen, kommt ein etwas ratloses „Wofür?“ zurück.


Kurz vor Runkel haut es mich in einer engen Wende heftig gegen ein Geländer. Ich stürze, Plastik knackt, die Kette springt raus und ich bin mit weichen Knien dem Geländer sehr dankbar, dahinter geht es fünf Meter tief auf die Bahntrasse. Aber wir (ähm, nun ja, „wir“ …) haben den Schaden schnell behoben und die Burg in Runkel ist dann so bezaubernd schön, dass das Missgeschick schnell vergessen ist. Mittelalter-Romantik vom Feinsten mit Fachwerk, Efeuranken und bunten Fenstern, gekrönt von einem hohen Bergfried. Die fünf Stockwerke engster Treppenstufen sind das Anstrengste an diesem Tag – aber welche eine Aussicht.


Fast so schön wie die Kuchentheke im Altstadt-Café eine Straßenecke weiter. Wir entscheiden uns dann doch für ein eher deftiges Mittagessen. Monsieur liebäugelt noch kurz mit einem Kuchen, aber das wäre wohl zuviel des – offensichtlich sehr – Guten.


In Limburg ist inzwischen die Stadt erwacht und beim Samstagsspaziergang. Auf dem Radweg tummeln sich viele Menschen mit und ohne Räder oder Kinderwagen, dazwischen genauso viele Kinder mit oder ohne Bobby-Cars, Dreiräder oder Tretroller. Wir fädeln uns vorsichtig durch, gönnen uns einen kurzen Blick auf die Altstadt und verpassen unter einer sehr hässlichen Brücke fast die Auffahrt auf eben diese sehr hässliche Brücke. Stadtdurchfahrt, naja, meist nicht so schön. Diez kann das noch toppen mit langwierigen Bergauf-Umwegen, für die die paar Fachwerkhäuser in der Altstadt nicht wirklich entschädigen.


Aber das liegt schnell hinter uns, denn das Etappenziel lockt, das Stellwerk im Bahnhof Balduinstein. Genauergesagt, die Kuchentheke im Bahnhofscafé. Die Kuchen sind durchnummeriert. Vielleicht, um die – meist holländisch sprechenden – Touristen nicht mit Maracuja-Kirsch-Kokosraspel-Torte zu überfordern. Vielleicht auch, weil die Besitzerin keine Lust, jeden Morgen solche Wortungetüme wie Rhabarber-Baiser-Cheesecake auf Schildchen zu schreiben. Monsieur entscheidet sich jedenfalls für Nummer 2, ich für Nummer 5, Sportlernahrung vom Feinsten.


Dann dürfen wir einen Kompromiss fahren. Irgendwo zwischen Geilnau und Laurenburg wohnt ein seltener Schmetterling, der in seinem bunten Treiben nicht von dem vorbeiradelnder Menschen gestört werden wollte. Deshalb mussten die Menschen eine sehr lange, sehr steile und sehr verkehrsreiche Straße nach Holzappel hochstrampeln, um auf der anderen Seite den dito Abstieg zu bewältigen.
Irgendwann haben Radler und Schmetterlinge mit Hilfe des Landes Rheinland-Pfalz einen Kompromiss gefunden und so können wir über zwei Brücken und ein Stück funkelnagelneuen Radwegs auf der anderen Lahnseite im Tal bleiben, schön flach. Ich hoffe, es freut die Schmetterlinge nur halb so sehr, wie es mich gefreut hat.

Kloster Arnstein ist eine wunderbare Anlage hoch über der Lahn. Meine Eltern haben dort geheiratet, weshalb das Kloster für mich eine besondere Bedeutung hat.
Der Ort im Tal dagegen, Obernhof, ist nicht nur der End-, sondern leider auch der Tiefpunkt der Tour.
Wir hatten geplant, dort nach sechzig Kilometern für die letzten Kilometer zum Bahnhofsparkplatz in Nassau in die Bahn zu steigen. Die Batterien zeigen noch zwei Striche, meine persönliche Anzeige eher weniger.


Die Lahnbrücke in Oberhof wird repariert, die Straße ist aufgerissen, kein Durchkommen möglich. Eine Fußgänger“Umleitung“ zum Bahnhof ist ausgeschildert: über einen mit zerfahrenem Bauschutt und Schotter gefüllten LKW-Wendeplatz, zwischen zwei engen Absperrgittern zu einem Stück Wiese an der Lahn. Dort vier Treppenstufen hinunter, auf einem Stück gepflasterten Treidelpfad unter der Brücke hindurch und auf der anderen Seite wieder erst über Wiese, dann Schutt und Schotter, bis am Bahndamm dann tatsächlich eine lange Rampe den Zugang zum Gleis ermöglicht.


Für uns mit den Fahrrädern eine Herausforderung, für Eltern mit einem Kinderwagen eine Zumutung, aber für Menschen mit Gehbehinderung oder im Rollstuhl schlichtweg eine Unverschämtheit an Gedankenlosigkeit.


Ich bin also schon nicht richtig gut gelaunt, als mich die Tristesse des mit kniehohen Disteln bewachsenen Bahnsteigs anspringt. In dieser deprimierenden Umgebung auf den Zug warten? Nein, dann lieber nochmal aufs Rad und auf das Energiepotential, das Kräftereservoir der reinen Sturheit setzen.


Reine Sturheit kann meine Laune immer beträchtlich verbessern. So endet unsere Tour mit einem befriedigt gelachten „Geht doch!“ in Nassau – und das lange bevor unser Zug in Obernhof hätte einfahren sollen.


Monsieur hebt die Räder auf den Fahrradträger und die dunkle Gewitterwolke, die uns seit einer Stunde folgt, dreht ab.
Das war so geplant. Heute haben wir nämlich die Regencapes eingepackt, planend, hoffend, wissend, dass wir sie dann wohl nicht brauchen werden.
Hat funktioniert, der Plan.

Fast genauso


Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See…

Gut, es sind Beeren, keine Birnen und sie sind rot, nicht gelb und sie hängen nicht in den See, sondern über die alte Bahntrasse von Bassenheim nach Münstermaifeld. Aber ansonsten ist es fast genauso wie bei Herrn Hölderlin.


Die gleiche Mischung aus üppiger, praller Herbstpracht und leichter Melancholie, die Freude über den gut gedeckten Tisch der Natur und die leichte Wehmut der „Herr-es-ist-Zeit.-Der-Sommer-war-sehr-groß“-Abschiedsstimmung der schon abgeernteten Felder.


Der Sommer war bis jetzt vor allen Dingen nass, aber heute schaffen wir es tatsächlich, im Sonnenschein durchs Maifeld zu radeln. Das Maifeld liegt nur gerade ein paar Schritte westlich der Pellenz und ist ganz sanft gewellte Lieblichkeit. Die Radstrecke führt fast 20 Kilometer genauso leicht gewellt durch grüne Baum- und Heckentunnel, aus denen die rot-schwarze Pracht der Holunder- und Weißdornbeeren auf uns herabblickt. Feldwege schaffen Fenster mit weitem Blick übers Land. Schwarzgraue Steinbrocken am Wegrand erheben den Anspruch Kunst zu sein, berühren mich aber nicht so sehr wie das Wissen, dass für die Tiere der Tisch reich gedeckt sein wird.

Bevor das alles zu sehr ins Emotionale abgleitet, lockt der alte Bahnhof von Polch mit kühlen Getränken und deftigen Speisen.


Damit die 40 Kilometer hin und zurück nicht zu flach sind, führen uns unsere Begleiter am Ende der Tour noch zu einem gut gehüteten Geheimnis. Besser gesagt, sie verführen uns, die steile Straße in die Ortsmitte von Ochtendung hinabzusausen zur besten Eisdiele der Gegend.
Da ist dann nicht mehr die Rede von Herbstromantik und poetischer Wehmut, da müssen wir uns den praktischen Fragen des Alltags stellen: Holunder? Oder Erdnuss-Salzkaramell? Im Becher oder im Hörnchen? Schwierige Fragen.
Und die letzte: reichen die Batterien für die steile Rückfahrt?