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Das Ende der Welt

Das Ende kommt dann überraschend schnell auf uns zu. Ein Blick in den neblig-kalten Nieselregen draußen, ein Blick auf unsere immer noch nassen Wanderschuhe und wir steigen ganz rasch zum Gepäck ins Taxi. Der Taxifahrer grinst, er scheint solch spontane Entscheidungen zu kennen.

Das neue Hotel rühmt sich als Spaniens westlichste Spa, aber das war wohl vor Corona. An Ba-Wü’s Wellness-Oasen wollen wir gar nicht denken, aber so ein ganz kleines bisschen hatte ich die gestern schon im Kopf als Motivationshilfe: „Nur noch einmal schlafen und dann gibt es Sauna und Whirlpool und Honig-Koriander-Peeling…“ Was man sich halt so zusammenträumt, wenn man durchfroren und trostbedürftig ist.

Wir öffnen dann auch die Tür mit der Aufschrift „Spa“, dahinter ein mittelgroßer gekachelter Raum, zugerümpelt mit kaputten Gartenmöbeln und anderem Abgestellten. Draußen gibt es einen Pool, nicht sehr verlockend bei 16° und Nieselnebel, mit Liegen, deren Polster regennass glänzen. Ach menno!

Da bleibt uns wirklich nichts anderes übrig als die nassen Wanderschuhe anzuziehen und uns aufzumachen zum Ende der Welt, zum Kap Finisterre. Wäre ja auch dumm, das jetzt nicht noch durchzuziehen, wo wir schon eh fast da sind…

Wir nehmen den Traski-Weg an der Westkante des Kaps entlang, drei Kilometer unberührte Einsamkeit. Auf den ersten hundert Metern sehen wir noch etwas, den Mar do Fora Strand etwa,

danach sind wir in den Wolken, im Nebel, jedenfalls ohne Möglichkeit die Regel: rechts das Meer, links das Land visuell zu überprüfen. Akkustisch, ja, das geht immer noch, so wie die Brandung unten gegen die Klippen donnert. Ab und an zeigt die Wanderkarte einen Mirador an, aber alles, was wir dort bewundern können ist der Blick in nebliges Nichts. Kurz übersteigen wir die 200er Höhenlinie, bevor wir zu dem kommen, was Höhepunkt des Tages, Höhe- und Endpunkt der Wanderwoche sein soll.

Kurzum, es ist schrecklich. Schon kurz bevor unser Weg auf die Straße stößt, sehen wir die Automassen, die Wohnmobile, die Autobusse. Das Wegstück ist rechts und links zugemüllt und auf der Straße zum Leuchtturm drängen sich mir viel zu viele Menschen. Dabei ist es ein verregneter Freitagmorgen in der Nachsaison.

Vor dem Camino-Stein mit der magischen Angabe „0,00km“ drängeln sich vierzig, fünfzig Menschen in einer Schlange. Sie warten geduldig ab, bis die am Anfang genug Fotos von sich und dem wichtigen Meilenstein gemacht haben und rücken eins weiter auf. Nicht ohne Aufstöhnen, wenn den drei Mädels an der Spitze beim Weggehen auffällt, dass sie doch noch nicht genug Selfies geschossen haben und noch einmal alle anderen warten machen.

Ein einsamer Didgeridoo-Spieler steht verloren im Nebel und lässt seine melancholischen Melodien über uns waschen.

Am modernen Leuchtturm vorbei schieben wir uns vor auf den kleinen Felsvorsprung, der den alten Leuchtturm trug und mit einem Kreuz auf einem der letzten Felsen das Ende der Welt markiert. Hier herrscht eine etwas andere Stimmung. Es gibt auch die gelangweilten Touristen, die sich wenig beeindruckt umschauen, aber die meisten Leute hier strahlen vor Freude ihr Ziel erreicht zu haben. Einige singen leise vor sich hin, ganz viele inszenieren einen einzelnen abgelatschten Wanderschuh dramatisch vor Fels- oder Leuchtturmkulisse und sind tief versunken im Versuch das beste Foto zu schießen. Aber alles in allem ist es mir hier einfach viel zu voll und dann geht uns auch noch Traski verloren. Plötzlich ist er weg, verschwunden, nicht mehr da, ohne uns die Möglichkeit eines Abschieds zu geben. Schade, aber wir müssen das wohl als typisch Traski akzeptieren, auch wenn wir das Gefühl eines Abschlusses sehr vermissen.

Wir drehen dann auch recht bald um. Der Didgeridoo-Spieler steht immer noch verloren im Nebel und Monsieur wirft ihm etwas in den Hut. Da wird er lebendig, bietet uns an, uns in seine Vibrationswolke aufzunehmen, eine Auramassage an uns durchzuführen. Ich sehe förmlich, wie Monsieurs Nackenhaare sich hochstellen und rette uns mit einer „Ach, dafür ist es viel zu kalt!“-Ausrede.

Auf dem Weg – entlang der Asphaltstraße – nach Fisterre selber sind wir wieder recht allein, nur ein halbes Dutzend Wanderer kreuzt unseren Weg. Der Ort selber hat ein paar nette Ecken, besonder die mächtige Igrexa de Santa María das Areas gefällt uns sehr. Aber es springt nicht so recht ein Funken über. Nachdem wir die Bekanntschaft von Fisterres frechster und unmotiviertester Kellnerin machen dürfen, kämpfen wir uns den Hügel hoch zu unserem Hotel. Den Nachmittag verschlumpfen wir bis zum Abendessen im Wintergarten mit Meerblick. Zum Nachtisch bestellt Monsieur zwei Glas Sekt, kleines feierliches Anstoßen und Abschluss der Wandertage. „Sekt nur als Flasche,“ kommt wenig hilfreich vom Kellner und so findet der letzte Tag auch irgendwie nicht den rechten Abschluss.

Am nächsten Morgen bringt uns ein Shuttle des Hotels (eine Stunde Taxi von Tür zu Tür, statt drei Stunden Busfahrt mit dreimaligem Wechsel Hotel-Taxi-Bus-Taxi-Hotel) zu unserem Airporthotel. Das ist zwar praktisch gelegen, aber so charmant, dass wir eine halbe Stunde später im Bus nach Santiago-Zentrum sitzen. Noch einmal durch die alten Gassen, noch einmal um die Kathedrale, noch einmal auf der Praza do Obradoiro zwischen den dort lagernden Pilgern hindurch laufen und zum guten Ende den kleinen Platz mit dem kleinen Lokal finden und genau die Tortilla und Pimentos de Padron bestellen wie am ersten Abend.

Da haben wir dann das Gefühl des Abschließens, des Angekommen-Seins: wir sind wieder da angelangt, wo wir vor fast zwei Wochen gestartet sind. Der gleiche Platz – und doch mit ganz anderen Erfahrungen und Erinnerungen im Gepäck.

Tut denn das not?

Die erste Stunde reden wir uns das Wetter noch schön. „Nordische Landschaften“ steht im Roadbook für heute, „erinnert an das schottische Hochland“, klar, dass da das passende Wetter Nebelschwaden mit leichtem Nieselregen ist. Aber so authentisch? Tut denn das not? Monsieur behält die Wettervorhersage im Auge und wiederholt wie ein Mantra: „Der richtige Regen kommt erst um drei Uhr.“ Da sind wir schon mit etwas Glück – und wenn die Wege so bleiben – fast am Ziel. Die Wege bleiben so – zumindest bis kurz vors Cabo Touriñán – das Wetter natürlich nicht. Alle „also“s und „eigentlich“s von Monsieur können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Drei-Uhr-Regen schon da ist, begleitet von heftigen Sturmböen. Wirklich? Tut das not?

Wir kämpfen uns vor auf die Spitze des Caps, wo mehrere Landrover parken. Während wir noch diskutieren, ob wir den Küstenpfad an den Klippen entlang wagen wollen bei diesem Wetter oder nicht doch lieber die sichere und zumindest etwas windgeschütztere Straße nehmen sollen, steigt ein gutes Dutzend Männer aus den Autos. Altersmäßig ist alles vertreten, von gerade erwachsen bis hin zum Graubärtigen, alle in Wetsuits. Dann bleibt uns der Mund fast offen stehen und wir beobachten mit einer Mischung aus Faszination, Respekt und zunehmendem Horror, wie sie die Klippen hinabklettern, um unten im gischtenden Meer zwischen den Felsen nach Muscheln zu suchen.

Etwas kleinlaut trauen wir uns dann den Klippenpfad zu bis zum Leuchtturm an der Westseite des Cabo Touriñán. Es gibt noch ein paar Touristen außer uns – schließlich ist der Faro berühmt dafür, den westlichsten Schatten Europas zu werfen – aber die meisten verschwinden nach einem kurzen Blick in den stürmischen Regen schnell wieder in ihre schützenden Autos. Wir trotzen dem Wetter und schauen und schauen und schauen. Aber so sehr wir uns auch anstrengen, die Freiheitsstatue in knapp 5200 km Entfernung können wir nicht erkennen. Muss wohl am Nebel liegen.

Das Wetter ist jetzt richtig garstig, meine Laune auch. Klatschnass durch Regen zu trapsen ist nicht meine Vorstellung gewesen von Wandern. Viel sehen von der Landschaft kann ich auch nicht, erstens wegen des Nebels und zweitens, weil mein Blick fest nach unten auf meine Füße gerichtet ist, damit der Regen mir nicht ins Gesicht bläst. Noch habe ich ein paar trockene Flecken an mir, etwa die wenigen Quadratzentimeter unterhalb der Kniescheiben, aber da kümmern sich dann die kopfhohen Farnwedel drum. Voller Faszination sehe ich, wie der Regen sich noch ein bisschen steigert und das Wasser an den Hosenbeinen entlang erst in die Socken und dann in die Wanderstiefel läuft.

Monsieur hört auf zu fotografieren, weil er seinem Handy das Wetter nicht zumuten will.

Unsere Tagesroute haben wir längt aufgegeben. Bei diesem Wetter zum beliebtesten Surferstrand zu laufen, um von dort wieder zurück in die Hügel zum Landgasthof zu trotten – ach nein, das muss nicht sein. Also kürzen wir ab über kleine Querstraßen durch winzige Dörfer. Ich sehe einen Pfirsichbaum, voller Früchte, die Hälfte liegt zertreten am Boden, und greife zu. Die Idee zu picknicken hatten wir sowieso schon lange aufgegeben. Eine Pfirsichhälfte habe ich schon im Mund, da warnt Monsieur: „Du, da kommt der Bauer.“ Ich kann nur entschuldigend grinsend, inflagranti ertappt. Der Bauer sieht mich, schüttelt den Kopf und zieht mich um die Ecke, zeigt auf einen noch größeren, noch voller hängenden Baum und macht eine einladende Geste.

Die Kilometer ziehen sich auf den Straßen und irgendwann hat Monsieur genug von der Begleitmusik. „Wenn du nur halb so viel Energie ins Laufen stecken würdest, wie ins Schimpfen“, meint er streng, „wären wir schon längst da.“ Von da an mosere ich nur noch leise und zähle die Doppelschritte, alter Trick.

Irgendwann taucht das kleine Dorf vor uns auf, unser Landgasthof ist natürlich das allerletzte Haus am oberen Ende. Die Wirtin öffnet auf unser Klopfen und schlägt mit „Oh dios“ die Hände zusammen.

Wir kippen erst das Wasser aus den Wanderstiefeln, bevor wir auf nassen Socken eintreten.

Bis dahin hatte ich gedacht, nach sechs, sieben Stunden Wandern, verschwitzt, dreckig, sandig unter eine kühle Dusche zu treten und danach frische saubere Klamotten anzuziehen, sei das höchste der Gefühle. Aber das ist gar nichts gegen das Gefühl, völlig durchnässt und verfroren unter eine heiße Dusche zu treten und danach trockene, wirklich ganz und gar trockene Kleider anziehen zu dürfen.

Eine halbe Stunde nach unserer Ankunft sitzen wir trocken und warm in der Gaststube, einen großen Pott Kaffee und ein Stück Walnusskuchen vor uns.

Draußen reißt plötzlich die Wolkendecke auf, der Regen hört auf und die Sonne kommt durch. Es ist 15 Uhr.

Weniger Meer ist manchmal mehr

Traski hat uns ja schon über Granitblöcke klettern gemacht, er hat uns durch Dünen stapfen lassen und über Holzstege, heute hat er sich etwas Neues ausgedacht. Heute stehen die Flüsse im Vordergrund. Meer gibt es natürlich auch, nur eben weniger. So ganz sicher sind wir uns nicht, ob wir überhaupt los wandern sollen, Nieselregen liegt in der Luft, die Vorhersage ist nicht die Beste. Allerdings deutlich besser als gestern, während Monsieurs Solo, weshalb wir es wagen.

Es stellt sich schnell heraus, dass wir uns um den Regen nicht hätten sorgen müssen, er lässt nach. Dafür übernehmen Bäume – von oben – und Farne – von der Seite – die Aufgabe uns nass zu machen. Wir folgen der Ria de Porto, der langgestreckten Flussmündung, deren Sandbänke bei Ebbe von Muschelsammlern abgegangen werden.

Monsieur – ganz der Gentleman – schüttelt mir die Äste frei und räumt mir die Spinnweben aus dem Weg, wir sind wohl die ersten hier heute Morgen.

Irgendwann treffen wir wieder auf die Küste, den Leuchtturm von Lagos vor uns. Ebbe ist heute für 12:39 angekündigt und da wollen wir am anderen Ende des Strandes sein, wieder wegen eines Flusses. Der kleine Rio de Lago fließt dort ins Meer und bei Ebbe könnte man ihn dort durchaus durchqueren, ohne ihm erst mehrere Hundert Meter weit ins Landesinnere folgen zu müssen, wo es eine kleine Brücke gibt.

Wir beäugen den Fluss, nun gut, das Flüsschen, und stellen ein seltsames Phänomen fest: das Bächlein fließt im breitadrigen Delta, aber nur wenige Zentimeter tief über den Sandstrand. Doch alle paar Sekunden schwillt es plötzlich an, als habe jemand weiter oben einen Stöpsel gezogen, ein Wehr geöffnet. Ein kräftiger Wasserschwall prescht heran, wirbelt den Sand durcheinander, schafft Untiefchen, Siele, jedenfalls Wasserstände, die höher liegen als die Oberkante unserer Wanderstiefel. Also doch lieber zurücklaufen und über die Brücke? Natürlich siegt unsere Faulheit – und Monsieurs wissenschaftliche Neugier. Wir beobachten das ganze mehrere Minuten lang und setzen beim „Jetzt!“ mit viel Gelächter, wenn auch nicht ganz trockenen Fußes über auf die andere Seite.

Nach so viel Abenteuer haben wir uns eine Pause verdient in einem kleinen unscheinbaren Café, wo uns zu den Getränken erst Sardellen auf Toast und dann kleine Fischpastetchen hingestellt werden. Das Café liegt in einer Seitengasse, so dass wir wieder zurück auf die Hauptstraße und damit die hochoffizielle Wegführung des Camino de Santiago müssen. Traski hat uns schon informiert, dass wir nur wenige Kilometer gemeinsam laufen werden, denn, so stellt er nicht ohne Herablassung fest, dieser Weg führt ausschließlich über asphaltierte Straßen. Was er nicht sagt, was aber natürlich mitklingt, ist, dass seine Vorschläge für den weiteren Weg natürlich viel schöner sein werden. Wie der durch das hochromantische Mühlental, mit durchnummerierten Mühlen in verschiedensten Stadien des Zerfalls bzw. der Restaurierung, das ganze auf eigentlich lauffreundlichen Holzstegen, die aber heute durch Regen und Laub spiegelglatt und gar nicht so einfach zu navigieren sind.

Kurz vor Muxia treffen wir den Santiago-Weg wieder mit seinen blaugelben Bornen, die angeben, wie weit es noch zur Stadt, genauer gesagt zum Heiligtum, zum Santuario de la Virgen da Barca ist. Das liegt aber am ganz anderen Ende der Stadt, so dass wir erst im Hotel den Rucksack loswerden wollen. Dummerweise hatte ich mir im Internet neben dem Namen auch die weiße Fassade des Hotels eingeprägt. Ungeschickt nur, dass sie seitdem einen Portico und Eingangsbereich in hochglänzendem schwarzen Granit davor gesetzt haben. Führt zu zusätzlicher Lauferei, bis uns auffällt, dass da was mit den Hausnummern nicht stimmt.

Zum Santuario de la Virgen da Barca laufen wir, nicht weil es uns wirklich interessiert, eher so aus dem „wenn wir schon mal da sind“-Grund. Die uralte kleine romanische Kirche auf dem Weg dahin ist eh mehr unser Geschmack, aber verschlossen. Vor dem Santuario tobt das Verkehrschaos, gleich 3 Polizisten müssen den Verkehr regeln, denn wir sind ausgerechnet in eine Heilige Woche geraten und just um diese Uhrzeit findet die Messe statt, deren Besucher schon aus der Kirche heraus auf den Vorplatz quellen.

Vor der Kirche liegt noch das Felsenboot, mit dem Maria angekommen ist und steht das Denkmal für die Freiwilligen, die in einer schier unermesslichen Welle der Solidarität halfen, die Küste von den Folgen einer Ölpest („Prestige“, 2002) zu reinigen.

Auf dem Rückweg hangeln wir uns von Lokal zu Lokal, die alle erst um halb neun oder noch später aufmachen, bis wir eines finden, wo uns – und anderen – auf der Terrasse mit einem Glas Wein und diversen Tapas die Wartezeit versüßt wird. Es wird uns wieder bewusst, dass wir dringend Spanisch lernen müssen, damit uns beim Eroski-Center oder nun auch beim Eroski-Bringdienst nicht die falschen Ideen kommen.

Das Lokal bietet gehobene galizische Küche und ein Wunder. Das Spanferkel auf der deutschen Kartenversion verwandelt sich auf mirakulöse Art und Weise in eine Lammschulter auf der englischen Karte. An solche Wunder glaubt Monsieur natürlich genauso wenig wie an schwimmende Felsenboote, aber hier ist die Lösung in der einfachen Mehrheit zu finden. Mit Hilfe des Wirtes (spanische) und meiner (französische Karte) schlagen die Lämmer das Spanferkel 3:1. Unschlagbar zart ist es dann auch noch.

Getrennte Wege

So ist das manchmal in einer Beziehung. Der eine will, die andere eher nicht. Da muss man dann gemeinsam eine Lösung finden.

Die besteht darin, dass Monsieur, der trotz stürmischer Regenschauer die dreizehn Kilometer Rundwanderung zum Cabo Vilan und nach Camariñas durchziehen will, eben dies tut, während ich mich in die Bibliothek verziehe. Ein bisschen lesen, ein bisschen schreiben und ab und zu zum Fenster schauen, wenn der Regen besonders heftig dagegen prasselt.

Ich kann das mit gutem Gewissen genießen, weiß ich doch, dass ich Monsieur gleich mehrfach eine Freude bereite. Denn er kann erstens so zügig ausschreiten, wie er das will, ohne auf mich Rücksicht nehmen zu müssen und wird zweitens vom Gemosere seiner Frau bezüglich Sturm, Regen, Steigung und was mir sonst noch missfällt, verschont. Ab und an schickt er ein Foto zum Fortschritt der Wanderung, alle unter dem Motto „Vom Winde verweht“.

Die letzte Meldung kommt aus einem Restaurant in Camariñas, mit dem Nachsatz: Soll ich dir etwas mitbringen?

So lässt es sich gut wandern.

Finde die drei Unterschiede

Heute sind wir high. Statt „low“ dem Traski-Pfad um alle kleinen Felsnasen und Buchten zu folgen, lassen wir uns oben im Wald absetzen und marschieren auf breiten Wegen (und mit fast dem Anderthalbfachen der Granit-Kletterei-Durchschnittsgeschwindigkeit) auf den Cemiterio dos Ingleses zu. Diese Alternativ-Routen bietet der Veranstalter für bestimmte Streckenabschnitte an, die bei Regen und besonders bei starkem Wind zu exponiert und potentiell gefährlich sind. Man kann sie aber auch einfach ausnutzen, um sich um das Erklimmen des galizischen Mont Blancs herum zu schummeln, einer hohen Wanderdüne. Könnten wir uns schönreden mit Argumenten wie Schutz eines fragilem Öko-Systems und nicht durch unsere Fußstapfen erodierter Natur. Müssen wir aber nicht unbedingt, wir können auch einfach dazu stehen, dass wir heute ein bisschen faul sind. Dafür werden wir auch noch belohnt mit der Aussicht auf den beeindruckenden Berg. Wenn ich da ein Foto unseres Mont Blanc daneben stellen würde, wäre es gar nicht so einfach, die drei Unterschiede zu finden.

Den Dünenberg im Rücken kommen wir sehr rasch zur Landspitze und dem seltsam anrührenden Cemiterio dos Ingleses, der Friedhof, auf dem die 172 Besatzungsmitglieder eines hier 1890 im Sturm zerschellten englischen Kriegsschiffes beerdigt sind.

Er ist heute Denkmal für alle Toten, die dieser Abschnitt der Küste in den letzten Jahrhunderten gefordert hat und Teil einer europäischen Friedhofsstraße, von deren Existenz ich bis dato nichts wusste. Dass dieser Fleck Erde weiterhin ein Ort des Gedenkens an andere und nicht der Selbstdarstellung einzelner wird, versuchen Schilder und drakonische Strafen mit mäßigem Erfolg durchzusetzen.

Ein Naturpark-Ranger auf seinem Moped kommt an uns vorbei und wir spekulieren, dass dieser tolle Job – auf dem Moped durch umwerfende Landschaften zu fahren – im Winter doch etwas weniger attraktiv sein dürfte, da gibt es etwas Aufregung. Links von uns steigen zwei schwarzgekleidete Menschen aus dem Meer und der Ranger spricht in ein Gerät. Kurz darauf erhält er Verstärkung und gemeinsam werden die zwei, die wohl illegal im Naturschutzgebiet Entenmuscheln (80€/kg im Restaurant) gesammelt haben, heftigst verwarnt. Was nun mit den armen Muscheln passiert, bekommen wir nicht mehr mit.

Genauso wenig, wie wir jemals erfahren werden, was – wenn überhaupt – aus diesen seltsamen Eiern in ihren Gelegen schlüpfen wird.

Durch rosarote Heidekrautwolken arbeiten wir uns – inzwischen wieder „low“ – um die große Bucht herum unserem morgigen Ziel, dem Leuchtturm vom Cabo Vilán, entgegen. Inzwischen sind wir schon so verwöhnt, dass wir vom großen Strand mit sicher einem guten Dutzend Badenden lieber ein paar Minuten zurücklaufen zu der kleinen einsamen Badebucht für uns alleine. Jedenfalls so lange für uns alleine, bis der Mann mit seinen zwei Hunden kommt, von denen einer unbedingt und der andere absolut nicht ins Wasser will. Recht amüsantes Unterhaltungsprogramm.

Nach dem Ende der Picknick- und Badepause bleibt uns noch eine halbe Stunde Weg am Strand, bevor wir rechts in den Wald einbiegen. Alte Steinmauern führen uns bergauf, bis wir über die Kuppe kommen und der schmale Feldweg nach Cotarino abzweigt. Dort hat jemand unseren Traum von gestern, vom alten renovierten Gehöft mit viel Liebe, sehr viel Geschmack und sicher sehr, sehr viel Geld umgesetzt und ein traumhaftes Hotel auf verschiedene Gebäude verteilt. Die Halle im Haupthaus ist umwerfend mit dem riesigen Kamin. Unser Gastgeber erhebt sich hinter seinem Schreibtisch, die auf den Papieren schlafende große silbergraue Katze öffnet nur kurz ein Auge. Schließlich muss er sie nach der Begrüßung vom Stapel heben, um unsere Reservierung herauszufischen. „He is the boss!“ entschuldigt sich der Mensch für die Katze.

Zwei Stunden später, frisch geduscht und gut erholt, setzen wir uns im Nachbarraum zum Abendessen hin. Ein köstlicher Salat, ein schöner Weißwein und im Hintergrund diese „Moment, ich komme gleich drauf“-Melodie, Klavier und Cello. „The boss just loves his cello music,“ erklärt uns der Sohn des Hauses begeistert, just in dem Augenblick, in dem ich mich wundere, was eben dieses Cello in der Mondscheinsonate zu suchen hat. Na gut, in Los Alamos, NM, hatten wir einen Nachbarn, der jeden Sonntagmorgen in seinem Garten Bachs Toccata und Fuge spielte, auf der Trompete. Geschmack und so.

Hauptgang und Nachtisch kommen, die Sonate dudelt inzwischen zum 5. Mal, wohl auf Endlosschleife. Langsam wird es ein bisschen zu viel Kitsch, aber es geht hier ja nicht darum, was uns gefällt. Wir sind hier schließlich nur Gäste und nicht „the boss“.

A Espera – das Warten

Ja, Laxe hat einen Leuchtturm. Der wird überall in der Stadt abgebildet, auf Schaufenstern, auf Speisekarten, in Hotel-Logos. Nur finde ich ihn nicht wirklich beeindruckend, als wir uns ihm nähern. Seine Außenhaut aus diesen kleinen weißen Kacheln erinnert mich leider nur zu lebhaft an die Innenwände bestimmter öffentlich zugänglicher Örtlichkeiten. Beides sicher sehr nützlich, Leuchtturm und Örtchen, aber schön?

Sehr tief beeindruckt bin ich dagegen von der Ausstrahlung der „A Espera“ Figur, ein Denkmal, gewidmet der Stärke und dem Mut der Frauen und Familien der Seefahrer und Fischer. Tage-, wochen-, monatelang mit der Unsicherheit zu leben, dieses Warten zwischen Hoffen und Fürchten, das bedarf bestimmt einer ganz besonderen Art von Widerstandskraft und Tapferkeit. Das fängt die Figur für mich sehr gut ein.

Wie so oft auf diesen Wanderungen geht es, nachdem wir beim Leuchtturm die schwindelerregenden 45 Höhenmeter (ohne Sauerstoff!) erstiegen haben, wieder hinunter auf fast Meeresniveau. In der nächsten Bucht soll der Pedra dos Namorados liegen, auf dem sich seit Jahrhunderten Liebespaare verewigt haben. Laut Erklärtafel liegt der Stein direkt vor uns, keine 400 (sic!) Meter unterhalb von uns. Da wir, auf knapp 30 Meter über dem Meer, leider die Taucherausrüstung nicht im Rucksack haben, wird das nichts.

Der nächste „Höhepunkt“ der heutigen Etappe ist dafür bestenfalls eine Mogelpackung. Er wird als „Strand der Kristalle“ angepriesen und man sieht auf Bildern buntleuchtende Glitzersteine im Sonnenschein. Nun haben wir heute leider wieder dichte Wolken, aber auch bei Sonne wäre die winzige Bucht wohl nicht wirklich überwältigend gewesen. Was sie so vollmundig anpreisen sind die Überreste einer inzwischen ins Meer geschwemmten wilden Müllkippe, von der nur noch die rundgeschliffenen Überreste alter Glasflaschen erhalten sind.

Vom Strand auf Meereshöhe geht es dann richtig „steil“ hoch zum Petón do Castro mit seinen 92 Höhenmetern. Mit uns kämpft sich eine Familie die Pfade hoch und wir behindern uns gegenseitig ein bisschen mit unserer Wanderer-Höflichkeit. „Gehen Sie ruhig vor, wir sind eh langsamer als Sie!“ – „Nein, nein, gehen Sie vor, denn wir sind es, die …“ Irgendwann sind wir alle oben, die Familie packt ihr Picknick aus, aber Monsieur beschließt, dass wir lieber am Strand picknicken und Pause machen wollen. Ich bin eh schon nicht so ganz gut drauf heute und meine Laune wird beim Abstieg auch nicht besser, als Monsieur sehr abrupt stehen bleibt und sich umdreht. Was das denn soll, will ich wissen. Er hebt abwehrend die Hände: „Ich habe mir nur Sorgen gemacht, wo du bist. Ich habe dich schon so lange nicht mehr schimpfen gehört.“

Die lange Pause am Praia de Soesto hilft meiner Laune nicht wirklich, die von gestern übrig gebliebenen und heute recycelten Stullen auch nicht. Wir klettern vom Strand hoch und treffen unseren Traski-Weg wieder, der im weiten Bogen außen herum läuft. Auf breiten, heißen Waldwegen geht es zum nächsten Strand, dem längsten Galiciens, der außerdem noch über einen See in seiner Mitte verfügt. Kurz vor Mordomo meint Monsieur – der mein Nörgel-Barometer ziemlich gut einschätzen kann – mit Blick auf die Karte: „Rechts geht der Weg, links geht’s zu einer Kneipe.“

Und das war es dann mit Wandern. Wir lassen uns in die Stühle fallen und bestellen erstmal zwei große Bier. Der Wirt stellt zwei Fischpastetchen dazu mit „Ihr seht aus, als ob ihr das gebrauchen könntet.“

Dann schaut sich Monsieur die Strecke und die Laune seiner Frau an, wägt gegeneinander ab. Ich helfe ihm bei der Entscheidung und lade ihn ein, in mein Taxi, das mich zum Endpunkt dieser Tagesetappe bringen soll, dem Museo Man in Camelle. Das Museum ist natürlich geschlossen, der kleine Ort wenig charmant. Ganz ehrlich: wenn ich das noch gelaufen wäre, hätte ich mich sehr geärgert!

Wir strolchen durch die Gässchen, um uns die Zeit zu vertreiben, bis wir – vom vorbestellten – Taxi abgeholt werden sollen. In einer Bauruine spielen vier magere kleine Kätzchen miteinander. Denen verfüttere ich den allerletzten Rest Stulle von gestern.

Insofern hat sich unser Besuch in Camelle dann doch noch gelohnt – zumindest für die Kätzchen.

Kleine Motivationshilfen

Der gleiche Taxifahrer, mit dem wir uns gestern so gut verstanden haben, holt uns heute Morgen ab. Keine fünf Minuten in die Fahrt gestern kamen wir an einem „campo do fútbol“ vorbei, wo er uns begeistert erzählte, er sei Argentinier und wir ja Alemán und dann verstehen wir nur noch fútbol. Wir nicken, wenn er eine Pause macht, lachen mit, wenn er lacht, das Ganze ist sehr unterhaltsam. Ähnlich „belebte“ Diskussionen führt er mit uns auf der Fahrt nach Roncundo, wo er uns neben einem der wunderschönen alten Getreidespeicher absetzt, uns in die richtige Richtung dreht und weiterfährt, unser Gepäck ins nächste Hotel zu bringen.

Breite Waldwege führen sanft bergab Richtung Corme an der Küste. Wir freuen uns auf einen Kaffee an der Strandpromenade, da schiebt uns der Weg ein zeitraubendes Hindernis in den Weg. Ein aufgegebenes Dörfchen, fünf, sechs alte Häuser, zum Teil mit Dach, meist ohne, das natürlich ausführlich erkundet werden muss. Die „Wege“ zwischen den Höfen sind flache Granitfelsen, die Mauern aus kleineren Brocken aufgetürmt. Natürlich springt meine Phantasie sofort an, baut hier einfache Übernachtungsmöglichkeiten für Wanderer aus, kleines Restaurant dazu. Ich koche, Monsieur kümmert sich um den Wein, was man sich halt so zusammenträumt. Völlig gefahrlos in diesem Fall, denn der verwunschene kleine Ort liegt quasi am Fuß von drei großen Windrädern. Im Augenblick stehen sie still, ich mag mir nicht ausmalen, wie das – ansonsten idyllische – Leben im Schatten von Wusch—-Wusch——Wusch sein würde.

In Corme genießen wir am Hafen einen café con leche, als eine Stimme von hinten sagt: „Ahja, das verstehen Sie also unter wandern!“ Es sind die Schweizer, die gestern beim Abendessen neben uns gesessen hatten. All unsere Beteuerungen werden weggewischt mit „Warten wir mal ab, in welchem Café wir Sie als nächstes treffen werden!“

Es soll das letzte Café bleiben, denn der Weg führt bis Balarés durch unberührte Natur. Er ist und bleibt steinig, eine Mischung aus Wandern und Klettern mit gelegentlichen Rutschpartien. Dafür bietet er kleine Motivationshilfen in Form von Ausblicken auf die nächste, die übernächste Badebucht. Inzwischen sind wir ja etwas erfahrener, was das Bade-Aufschieben bis zur letzten Bucht angeht. Deshalb fällt die Entscheidung leicht, etwas Rutschen, etwas Klettern in Kauf zu nehmen für ein Picknick in unserer ganz eigenen, ganz privaten Badebucht. Als wir eine Dreiviertelstunde später wieder aufbrechen, klettert gerade ein anderes Paar über die Felsen in die Bucht, um ihr privates Badevergnügen zu genießen.

Balarés, hatte der Taxifahrer angedeutet, wäre die letzte Möglichkeit für müde Wanderer sich abholen zu lassen. Eine Straße führt zum Strand und zum Restaurant, das – Samstagmittag – völlig überlaufen ist. Die vollen Teller und Platten, die an uns vorbeigetragen werden, während wir auf einen Tisch hoffen, zeigen, dass das nicht nur am Meeresblick liegt. Wir geben irgendwann auf und ziehen um die Bucht herum weiter.

Unser Ziel Ponteceso liegt am Río Anllóns und das macht den Rest der Wanderung sehr abwechslungsreich, in verschiedener Hinsicht. In die langgezogene Flussmündung hat der Wind eine Sanddüne geschoben und dahinter Feuchtgebiete geschaffen. Das heißt für uns zuerst einen kompletten Szenenwechsel: statt zwischen Granitfelsen oberhalb einer schroffen Felsküste zu klettern, stapfen wir durch leichtgewellte Dünenlandschaften.

Wobei das durch den Sand stapfen auch ganz schön anstrengend ist, wenn auch auf eine andere Art als das Klettern. Als wir auf der anderen Seite den Dünenhang hinuntergestapft sind, legen wir eine kurze Pause im Schatten von hohen Föhren ein, bevor wir den letzten, den einfachste Teil der Etappe angehen. Der Ausblick auf die Schilf- und Riedgebiete ist sehr schön, allerdings fehlen mir eindeutig die Pinguine.

Ein breiter Wanderweg, hier und da mit Beobachtungsposten für eine Vogelwelt, die ganz augenscheinlich gerade Siesta hält, führt uns weiter und zur offensichtlichen Lösung eines kleinen Problems. Auf unserer Wanderkarte ist nämlich nur die Wegführung durch den Fluss eingezeichnet, aber keine wie auch immer geartete Struktur, um das zu erleichtern. Die Stadt hat ein Einsehen und einen wunderschönen Holzsteg gebaut, der uns bis fast zur namensgebenden Brücke führt. Auf der anderen Seite, am Ende eines als grüner Park eingezeichneten Platzes soll dann der Taxi-Stand sein.

Was wir finden ist ein zubetonierter Platz, auf dem eine einsame Palme steht. Zum Glück gibt es das erhoffte Café neben dran, in dem wir auf unser Taxi warten können.

Es kommt – ein bisschen zu früh – und drei junge Frauen steigen unter Ächzen und Jammern aus, hieven unter Ächzen und Jammern ihre Rucksäcke aus dem Kofferraum und bedanken sich sehr überschwänglich beim Fahrer. Wir steigen mit etwas weniger Ächzen und ganz ohne Jammern ein und sind eine halbe Stunde später in Laxe. Wo unser Hotel uns zwar ein Zimmer ohne, dafür aber eine Terrasse mit Meerblick bieten kann. Und eisgekühlten Getränken. Auch gut.

Finde Traski oder

Wandern mit Einsatz

Das Meer ist schwarzgrau heute Morgen, das dazu passende Wolkengrau drückt ein bisschen die Stimmung. Das Frühstück heitert uns dann wieder etwas auf. Der Wirt – grummelig, aber irgendwie knuffig – bringt Obstsalat, Saft und große Platten mit Käse und Aufschnitt zu dicken Scheiben Tostadas. Nickt uns zu, brummelt etwas in Richtung „Guten Appetit!“ und verschwindet. Kommt kurz darauf wieder, stellt einen Teller mit vier mächtigen Scheiben Brot und einen mit Obst vor uns hin, zeigt mit dem Kinn auf die Aufschnittplatten, brummelt noch etwas und geht. Wir verstehen, das soll wohl die Lunchbox sein, DIY sozusagen.

Dann erzählt er uns beim Abräumen – raten wir -, dass er früher unsere heutige Strecke in drei Stunden gemacht habe, bis zum Faro anderthalb und weitere anderthalb bis zum Strand von Ninons, von wo uns ein Taxi zurückbringen soll.

Ich habe in meiner Jugend auch schon mal Tagesetappen von 37 Kilometern gerissen, mit 20 Kilogramm Rucksack auf dem Rücken, aber das sagt doch gar nix darüber aus, was ich heute so leisten kann – oder will, wo wir schon mal bei dem Thema sind.

Mit unserem Picknick im Rucksack geht es erst um die Bucht von Barizo herum zu einer eher trostlos, wie aufgegeben wirkenden Hafenanlage. Dort beginnt das „Finde Traski“ Spiel. Irgendwo hinter der Hafenmauer muss es ja wohl weitergehen, aber es dauert ein bisschen, bis wir den grünen Punkt finden. Selbst Traski läuft hier nicht leichtfüßig über die rundgeschliffenen Granitfelsen, weshalb wir kaum Füßchen, dafür aber Punkte sehen, quasi sein Handabdruck. Selbst die sind sehr erratisch auf den Felsen angeordnet und fordern uns auf, den besten Weg selber zu finden.

Letzte Woche hatte ein lieber Mensch mir angeboten, mich zu einer Schnupperstunde Bouldern mitzunehmen. Habe ich abgelehnt, was ich hier bei jedem Handgriff bereue. Wir wandern mit Ganzkörpereinsatz, gelegentlich auf allen Vieren, gelegentlich auf dem Hosenboden. An der einen Stelle, an der Traski Einsehen und Griffmulden in den Felsen gehauen hat, schaffe ich es, mir einen solchen Knoten in die Beine zu machen, dass ich oben erstmal mit dem Sortieren beschäftigt bin. Ein kurzes Stück weiter sehen wir dann den Grund für diese sehr herausfordernde Wegführung: Traski ist wohl verliebt und seine Gedanken nicht so recht bei seiner Aufgabe.

Nach zweieinhalb Stunden stehen wir am Fuß eines schrägen Granithanges, da kommt von oben ein junger Mann heruntergerutscht. Mit Hola! und Wie gut, dass ich Sie treffe! will er wissen, wie lange wir denn von Barizo bis hierhin gebraucht hätten. Wir gestehen etwas beschämt die zweieinhalb Stunden ein und betonen, dass wir sehr, sehr langsam seien. Er lacht und meint, das wäre toll, denn er wolle heute noch nach Malpica (unser Startpunkt gestern), aber dann wäre Schluss. Vor 39 Tagen wäre er an der spanisch-französischen Mittelmeerküste aufgebrochen nach Santiago, von da weiter nach Fisterre und dort – wo er schon mal da ist – hätte er den Leuchtturmweg drangehängt. Den ganzen – nicht so wie wir die Sahnestückchen mit Taxi-Unterstützung und Gepäcktransport. Nach 1100 Kilometern wäre dann heute Abend Schluss. Wir sind sehr, sehr beeindruckt und wünschen ihm alles Gute für den letzten Teil seines Abenteuers, während wir uns daran machen, den Rutschfelsen zu erklimmen.

Vom Leuchtturm ist noch immer nichts zu sehen, dafür machen wir unsere eigene Skulpturenausstellung. Dieser Felsen sieht aus wie ein Gecko, jene Insel wie ein aus dem Wasser auftauchendes Nilpferd. Das drüben ist ein Seeigel XXXL und der da sieht aus wie einer der drei Affen mit den Händen vor den Augen. Das lenkt davon ab, dass wir inzwischen bergab klettern, was nur wenig besser ist als bergauf, der Phantasie aber durchaus andere Szenarien vorgaukelt.

Nach drei Stunden taucht der Faro zwischen Granitbrocken auf, nach dreieinhalb stehen wir im beißenden Wind auf dem Parkplatz zwischen Autos und Wohnmobilen. Den recht modernen Leuchtturm ziert eine bronzene Statue, die sich wie eine Galionsfigur in den Wind wirft. Monsieur ist etwas verschnupft und weigert sich Kunst zu fotografieren, die ihm nur den Po entgegenhält. (In drei Wochen sind wird in Paris, mal gespannt, was er zu den Pos der Figuren im Louvre sagt.)

Kunst hin und Leuchtturm her, es ist Zeit Bilanz zu ziehen, denn dies ist der einzige Punkt der Wanderung, an dem wir Handy-Empfang haben. (Noch so ein Problem mit meiner Phantasie: wenn in den Schweizer Alpen etwas passiert, was hässliche Knirsch- oder Knackgeräusche in Knochen oder Gelenken produziert, ist in 15 Minuten die Rega da. Hier hast du stundenlang noch nicht mal mehr die Möglichkeit jemanden anzurufen.) Wir gestehen uns ein, dass wir hoffnungslos hinter der Zeit sind und kaum davon ausgehen können, das bis zum verabredeten Treffen wieder gut zu machen. Von hier oben können wir schon sehen, wie der Weg sich an der Küste entlang schlängelt, er sieht nicht nach „ein bisschen Tempo anziehen“ aus. Also müssen wir das Taxi umbestellen. Der Taxifahrer lacht nur und bestätigt die neue Uhrzeit (die wir vorher vorsichtshalber auf galizisch gegoogelt hatten, sicher ist sicher.) Wir scheinen nicht die ersten gewesen zu sein mit dieser Bitte.

Am Leuchtturm ist es uns zu voll, zu windig, zu ungemütlich, also laufen wir ein Stück weiter den schmalen Pfad hinab, bis wir zwischen großen Felsblöcken ein geschütztes Eckchen zum Picknicken finden. Monsieur beäugt von oben den ein oder anderen Strand sehnsüchtig, aber wir haben beschlossen, erst am letzten Strand (900 Meter Asphaltstraße vor Taxitreffpunkt) ins Meer zu gehen, wenn wir wissen, wie wir in der Zeit liegen. Leider ist das dann die große Enttäuschung. Im Gegensatz zu all den kristallklaren, sauberen kleinen Buchten ist dieser Strand mit grünen Algenteppichen und einer gelben Schaummasse bedeckt, sehr abschreckend.

Also trappsen wir etwas enttäuscht und sehr müde die Straße hoch zu der kleinen Kapelle, vor der ein großer Brunnen in den Felsen gehauen ist. Kein Wein hat je köstlicher geschmeckt, kein Bier war je erfrischender als das Wasser dieser Quelle.

Als wenig später unser Taxifahrer fröhlich winkend neben uns hält, geht es uns richtig gut.

Traski Navigationssystem

Wir wachen auf und sehen erst mal gar nichts. Dichtester Nebel hüllt das Gebäude ein. „Sol?“ fragen wir den Taxifahrer, der uns vom Hotel zum Startpunkt bringen soll, aber der schüttelt nur den Kopf. Nun gut, rechts das Meer heißt dann wohl, wenn im Nebel die Füße nass werden, sind wir zu weit rechts. Passiert aber nicht, denn ersten spielt der Nebel mit uns und zweitens haben wir ja eine neue Navigationshilfe. Sie heißt Traski und ist ein kleiner grüner Kobold. Traski lebt an der Costa del Morte und ist zu allerlei Unfug aufgelegt. Sein Hauptspaß aber ist es entlang der Küste auf dem Camiño dos Faros herumzuturnen, dessen Maskottchen er ist. Dass er dabei seine kleinen grünen vierzehigen Fußstapfen hinterlässt, ist gewollt und hilft uns und allen anderen Wanderern, den Weg zu finden.

Aus Malpica hinaus leitet Traski uns auf den breiten Pilgerpfad zur Santo Hadrian Kapelle, die freundlicherweise etwa ein Drittel der Tagesstrecke markiert. Weil die Prozession sehr bekannt und beliebt ist, ist der Weg breit angelegt, ab und an bietet eine mehr oder weniger heilige Quelle Wasser. Hinter der Kapelle wird der Weg deutlich koboldiger, schmaler, unwegsamer. Die Wege werden rechts und links bedrängt vom gelbblühenden Ginster, rosaroten Erikabüschen und einem kleinen weißblühenden Strauch, der mir seinen Namen nicht verraten hat. Es ist Aufgabe der Gemeinden, die Wege freizuhalten, was sie wohl mit der Motorsense tun. Die Schneideabfälle bilden dann ein weiches, sehr gehfreundliches Polster.

Wir sehen unseren ersten Leuchtturm, ähm, Türmchen, auf den vorgelagerten Inseln. Traskis Fußstapfen häufen sich an einer Stelle und markieren den Aussichtspunkt. Auf anderen Abschnitten amüsiert er sich damit, uns meterhohe Granitbrocken in den Weg zu werfen. Seine leichtfüßigen Stapfen zeigen, dass er das Überqueren mühelos geschafft hat. Wie wir darüber kommen, scheint unser Problem zu sein.

Gelegentlich tauchen am Wegrand geheimnisvolle Steinspitzen auf, geradlinig – von Menschenhand? – angeordnet laufen sie parallel zum Weg. „Uralte Kultstätte“, flüstert mein dunkelgrauer Apfelschimmel von Phantasie schon wieder und tänzelt, am Gebiss kauend. „Prähistorischer Handelsweg“, bietet er mir an. „Kaminschlote von Traskis Höhlen“, meint Monsieur. Auch gut möglich.

Der Strand von Beo, völlig menschenleer, wird zu unserem Picknickplatz. Unser Pazo-Manager hat uns „Bocadillo?“ gefragt und wir haben genickt. Es sind Monster-Stullen, gut 20 Zentimeter lang und üppig mit Serrano und Tomaten belegt. Dazu gibt es Pfirsiche aus dem Pazo- Garten. Wasser haben wir genug dabei für unser üppiges Mittagsmahl.

Während wir essen, fallen Nebelschwaden in die Bucht und hüllen uns gänzlich ein. Auch gut, das spart das Herumgealbere mit dem Handtuch beim Umziehen vorm kurzen, sehr kurzen, da erfrischend, sehr erfrischendem Bad.

Der Weg hat eine liebevoll gestaltete Webseite, die ihn fest auf der Landkarte europäischer Fernwanderwege verankern soll. Kommt uns heute als noch nicht ganz  vollbracht vor, sechs junge Wanderer überholen uns, drei andere kommen uns entgegen. Ansonsten sind wir – mit Traski – allein auf weiter Flur. Achja, ein Fischer war da auch noch, aber der hat geschummelt mit seinem Moped.

Wir kommen kurz hinter  Beo um einen Vorsprung und sehen etwas sehr Beunruhigendes: genau gegenüber, auf der anderen Seite der Bucht, in den Granitfelsen, knapp über der Brandung hängen die Wanderer (fluofarbene T-Shirts erleichtern das Erkennen) in der Felswand. Die Hände weit über den Kopf gestreckt, tasten sie sich vorsichtig im Krabbengang seitwärts auf einem Felsvorsprung an der Wand entlang. Eine Nebelbank schiebt sich vor sie und wir schauen uns an. Ja, in der Wegbeschreibung stand etwas von „exponiert“, es gab den Hinweis auf eine Alternativroute für nicht Schwindelfreie. Hmmm, so sehr wir in den Nebel starren, wir können nicht erkennen, was sie auf der anderen Seite machen, ob sie weiterkommen, ob sie kehrt machen. Wir warten noch ein paar Minuten, doch der Nebel hat keine Eile und wartet genauso. „Wenn da ein Seil ist“, beginnt Monsieur, aber mir ist klar, in den Alpen, da wären wir bei solchen Sichtverhältnissen umgekehrt. Hmmm.

Gut, es geht erstmal über den Strand und seinen Zufluss. Wir warten die nächste Welle ab, lassen sie ablaufen und kommen fast trocknen Fußes über die Sandbank. Es geht eine Straße hoch, Traski dreht nach rechts und kurz darauf beginnt der „exponierte“ Teil. Der Pfad führt direkt am Steilhang entlang, aber deutlich oberhalb der Brandungslinie und ganz sicher ohne Akrobatie in der Felswand. Kurz darauf kommen wir – bestimmt dreißig Meter höher – an der Stelle vorbei. Einer der Wanderer steht angelnd auf einem Felsen in der Brandung, woraus ich schließe, dass es den anderen auch gut geht.

Der nächste Vorsprung kommt, die Felsen gischtumtost, aber auch nebelverhangen und dann sehen wir das erste Haus von Barizo: einen absolut scheußlichen, heruntergekommenen Landwirtschaftsbetrieb. Da laufen wir doch gerne noch die paar hundert Meter weiter bis zu unserer Pensión Rústica. Die ein Zimmer mit Meerblick für uns hat, im zweiten Stock, aus dem man einen ganz phantastischen Blick auf den Nebel hat.

Einmal Bauchschmerzen – ohne Rückfahrschein

Der Regen hat uns mal wieder gefunden, aber wir haben ihn ausgetrickst. Monsieur hatte uns für gestern Abend ein nettes kleines Lokal in einer netten kleinen Gasse ausgesucht. Nur ist die Gasse so klein, dass wir beim ersten Mal daran vorbeilaufen. Als wir das auf einem Nachbarplatz merken, öffnet sich der Himmel, ein Platzregen fällt auf uns herab und wir retten uns unter einen mittelalterlichen Gewölbebogen. Binnen Sekunden gesellen sich ein Radfahrer, zwei ältere Damen und ein mürrisch dreinblickender Teenager zu uns.  Radfahrer und Teenager beginnen sofort, auf ihren Handys zu tippen, die beiden Damen zu plaudern, wir alle tun so, als existiere der Regen gar nicht. Der legt deshalb noch eine Zugabe ein, die uns alle enger zusammen in die Mitte des Gewölbes treibt. Wir ignorieren ihn weiter. Zehn Minuten später verliert er die Lust an uns und tröpfelt nur noch sanft vor sich hin.

Monsieurs Lebensgefährtin hat mal wieder „die Vapeurs“ und verweigert jegliche Information, aber mein abgegriffener Stadtplan zeigt, dass es nur zwei Ecken und ein paar Schritte zum Lokal sind. Fast nicht nass kommen wir an, entschuldigen uns für die Verspätung. Der Kellner hebt nachsichtig eine Augenbraue – dass Mitteleuropäer immer davon ausgehen, vor neun Uhr überhaupt etwas zu essen zu bekommen –, führt uns zu unserem Tisch und bietet Wein, Brot und Olivenöl an, bis die Küche wirklich aufmache. Wir sitzen an einem Fenster mit mächtigen Granitblöcken als Laibung, ich habe einen riesigen Kamin im Rücken, Monsieur eine archaische Bruchsteinmauer.

Das Essen ist sehr gut und wir laufen in der Dunkelheit beschwingt durch den fast nicht Regen. Monsieur macht noch einen Abstecher zu dem Kloster, in dem er vor 25 Jahren während einer Konferenz untergebracht war, um mir zu zeigen, woher die Kindel der Pflanzen stammen, die vor einiger Zeit so spektakulär aus unserer Terrasse geblüht haben.

Damit haben wir eigentlich so gemacht, was wir in Santiago so machen wollten. Vielleicht noch den Wochenmarkt und einmal galizisch frühstücken, bevor der Teil kommt, der mir noch etwas Bauchschmerzen bereitet. Frühstücken bekommen wir problemlos hin, der Markt begeistert uns nicht so richtig und für die verbleibende Zeit schlendern wir noch einmal durch die prachtvollen Straßen und Arkaden Santiagos und machen Schaufensterbummel der etwas anderen Art.

Mittags holt uns vorm Hotel das Taxi ab, das uns zur Estacion Intermodal bringen soll. Die zu finden, ist seine Aufgabe, da vertraue ich ihm vollkommen. Unsere wird es sein, die „plataforma 14“ zu finden, für den 13-Uhr-Bus nach Carballo, einfache Fahrt, ohne Rückfahrschein. Zum Glück sind wir nicht abergläubisch, was 13 Uhr angeht. Die „plataforma 13“ zu finden, das hätte dagegen schwierig sein können.

Das kommt jetzt vielleicht als Enttäuschung für euch, aber es klappt alles problemlos, inklusive einer netten Beruhigung durch eine kleine, alte Dame, die uns um 12:55 erklärt: „Kein Problem mit Bus, Spanier nur nix gut mit Uhr.“

Der Bus setzt uns 70 Minuten später in einer recht trostlos wirkenden Busstation ab, aber da kommt auch schon unser Taxi, das uns in unser Hotel bringen soll. Altes Herrenhaus aus dem 17. Jahrhundert, gebaut auf den Resten eines mittelalterlichen Wehrturms, gebaut auf den Resten einer keltischen Ringfestung, also genau mein Ding.

Leider nur für eine Nacht, sonst hätte ich sicher noch nach dem Geheimgang suchen müssen, der angeblich den „Pazo“ mit der Ortskirche verbindet. Denn Santiago ist für uns der Anfang, nicht das Ende eines Weges.  An der etwas furchterregend klingenden Costa del Morte wollen wir ab morgen von Leuchtturm zu Leuchtturm wandern. Rechts das Meer, links das Land, das dürfte sogar ich schaffen mit der Orientierung.