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Richtig gut

Erfurt oder Eisenach?

Alle – außer mir – tendieren zu Erfurt. Ich denke da halt an graue Stadt, an Plattenbauten, aber na gut, so funktioniert Demokratie.

Erfurt überrascht mich dann völlig mit seinen bunten Fachwerkbauten, dem Gewusel der Krämerbrücke, der ich erst nach zweimal Nachfragen und einmal selber Nachschauen die „Brücke“ glaube.

Ich finde es richtig gut, mich so geirrt zu haben.

Im Hotel gibt es ein letztes Abendessen mit unseren Freunden, ein letztes Mal spätabends herumschleichende Kellner, die ohne rote Ohren lügen: „Nein, nein, wir haben Zeit.“

Ein letztes Mal packen, mit nachsichtigem Lächeln für all die Dinge, die wir – bei manchem zum Glück – nicht gebraucht haben. Menschenflickzeug gehört dazu und die Regencapes. Weniger wohlwollend betrachtet Monsieur die Müsliriegel und das Studentenfutter, das er auch schon durch die Eifel geschleppt hat. Aber wenn wir unterwegs eingeschneit wären oder eine plötzliche Flutwelle den Weg vor und hinter uns abgeschnitten hätte – ja, dann.

In den Koffer kommen jetzt die Karten und Wegbeschreibungen, viele schöne Erinnerungen und meine neu gewonnene vorsichtige Zuversicht, was Fahrräder und mich angeht. Die Elbtalauen, die haben uns ja damals auf der Fahrt mit meines Bruders Boot so sehr gut gefallen. Da es aber zwei Jahre Anlauf plus eine weltweite Krise gebraucht hat, den Unstrut-Plan umzusetzen, rechnet mal nicht übermorgen mit neuen Fahrradtouren.

Wie schon Schiller sagte

Sch…wetter.

Gut, ich kann gerade für dieses Zitat nicht die Quelle belegen, aber ich bin sicher, dass er das irgendwann gesagt hat. Hier in Weimar, im Dauerregen.

Wir sind mit der Recherche zu meinem zukünftigen Buch beschäftigt: Die schönsten Museumscafés. Über den Anspruch (Deutschlands, Europas oder gar noch mehr) muss ich noch ein bisschen nachdenken.

Hier und heute ist es so etwas wie Notwehr. Corona und das Wetter haben sich gegen uns verschworen. Wir laufen im strömenden Regen durch den Park an der Ilm, vorbei an der Stadtburg und einem sehr nassen August auf einem sehr nassen Pferd. Identifizieren die Amaliabibliothek als das Haus mit der langen Schlange davor, in die wir uns kurz einstellen. Als Monsieur von einem Erkundungsgang zurückkommt mit der Nachricht: Zwei Stunden Wartezeit – mindestens, sagen wir Amalia erstmal Tschüss. Die Seifengasse bringt uns auf – ohne Fahrradsattel wieder – romantisch-altmodischem Kopfsteinpflaster ins Zentrum, wo wir grinsend die lange Schlange vor Goethes Haus betrachten. Vielen Dank, genau die Ausrede, die wir brauchen. Bei Schiller ist es nicht ganz so voll – typisch, nicht wahr -, aber trotzdem zu ungemütlich, um zu warten. Wir erfinden uns unsere Weimarer Sehenswürdigkeiten, wie Hoffmann’s Buchhandlung (deren Deppen-Apostroph, nicht meiner), in der ganz sicher schon Goethe drinnen in dicken Wälzern blätterte, während der arme Schiller sich draußen am Fenster die Nase plattdrückte.

So kommen wir über die Schillerstraße zum Theaterplatz mit dem berühmten Denkmal. Goethe versucht gerade Schiller vom Sockel zu schubsen, während ich rasch im Haus der Weimarer Republik nachfrage, ob sie vielleicht… Haben sie und wir setzen uns nieder zu intensiver Recherche. Die lokale Spezialität, eine XXL-Nussecke aus Mürbeteig und Nussmasse ist mit einer dicken Schicht Schokolade überzogen. Vollwertkost nennt Monsieur so etwas. Der Mohnstreuselkuchen ist allerdings nicht mehr ganz frisch. Das bringt leider Abzüge in der B-Note. Wir sind so konzentriert am Testen, dass uns entgeht, dass es Besuchsbeschränkungen gibt. Weshalb wir die Wartezeit – noch mehr Kaffee und Kuchen erscheint uns nicht gerechtfertigt – mit Bummeln durch Weimars Straßen verbringen.

Wir treten hinaus auf den Theaterplatz, wo gerade Goethe versucht Schiller den Lorbeerkranz aus der Hand zu reißen, und machen uns auf den Weg zum Markt. Es ist Kunstforum in Weimar und drei singende Bananen haben uns Wichtiges mitzuteilen. Monsieur ist mehr an einer Thüringer Bratwurst interessiert und holt uns kurz vorm Herderplatz ein, der uns zeigt, dass ein Dichter es auch nicht immer leicht hat damit ernst genommen zu werden.

Inzwischen ist es Mittagszeit, die Restaurants sind gut besetzt und wir hegen die Hoffnung, dass auch Amalia-Besucher lieber etwas essen gehen, als Schlange zu stehen. Unser Plan geht auf, genau drei Leute stehen vor der Tür, als wir dazukommen und uns sofort einen gepflegten Anschnauzer einhandeln, von der Hüterin des Tores. Ob wir die Ringelhütchen nicht sehen würden? Da sollten wir uns gefälligst dran halten, schließlich sei Corona. Diese Warnhütchen ziehen sich an der gesamten Amaliafront entlang. Vor Corona hätte ich gedacht, dass sie uns vor herabstürzenden Ziegeln warnen sollen, heute geben sie uns die anderthalb Meter Abstand vor, die streng eingehalten werden müssen. Dafür wird die Besucherzahl etwas lockerer gesehen. Zwei Personen verlassen die Bibliothek. „Zwee Leute“, ruft die Cerberusin. „Wir sind aber drei,“ antwortet die Familie vor uns. „Na juut,“ kommt es. Bei uns spielt sie das gleiche Spiel für vier. Drinnen geht es dann weiter mit Handdesinfizieren, Kontaktbögen ausfüllen und weiteren Wartezeiten. Diesmal geht es nicht nach dem Ermessen der Dame vor dem Großen Saal. Wir müssen warten, bis genug Riesenfilzschlappen zurückgegeben worden sind. In diesen schlurfen wir dann voller Anmut und Grazie durch den Rokoko-Saal und bewundern die wiederhergestellte Pracht. Nur einige wenige Brandflecken im Parkett und eine absichtlich nur teil-restaurierte Balustrade erzählen ihre Geschichte. Wie ein Raunen läuft immer wieder von Traurigkeit geprägt „Fünfzigtausend“ durch den Raum, oft gefolgt von „Kannst du dir das vorstellen? Fünfzigtausend Bücher, verbrannt!“ In den Regalen stehen sie dann Einband an Einband, die geretteten, die restaurierten und die versehrten Bücher in ihren Schubkartons. Nur der eine große Karton, da oben in der Ecke des ersten Regals, der hat bei näherem Hinschauen ein Kameraauge und tarnt sich nur als Buch.

Von der Amalia aus machen wir uns wieder auf den Weg zum Museum der Weimarer Republik, das inzwischen auch Platz für uns hat. Die multimediale Ausstellung ist sehr intensiv und entlässt uns mit dem Gefühl, dass Demokratie ein sehr hohes lebendiges und schützenswertes Gut ist. Ein Gut, dass wir nicht als zu selbstverständlich sehen dürfen.

Auf dem Theaterplatz ist Goethe ein bisschen beleidigt, dass wir, tief in Gedanken versunken, gar nicht auf ihn achten. Wir bieten ihm an, im „Gretchen“ in der Seifengasse einen Kaffee zu trinken, schließlich eine seiner Hauptfiguren. Gretchen hat Schokotorte und Joghurtkuchen im Angebot, Rharbarber-Spritz und Kaffee-Spezialitäten. Als wir, in vielerlei Hinsicht satt und zufrieden, an die Heimfahrt zum Hotel denken, fällt mir auf, dass ich meinen Schirm bei der Republik habe stehen lassen. Also gibt es noch einmal Weimar im Schnelldurchlauf, bis ich mit dem Schirm in der Hand auf den Theaterplatz trete.

Und Goethe grinst.

Und? Wie war’s? 2.0

Unser Hotel gestern bringt uns im ersten Stock unter und hat einen Aufzug.

An dem ein Schild hängt: Außer Betrieb.

Aber wir sind ja jetzt trainiert, dank der Fahrradtouren. Gestern, da war trotz Regen und Sturm so eine Fröhlichkeit in mir, so ein Federn beim Laufen.

Immer wieder, auf dem Markt, im Dom, blubbert das hoch, das Staunen und die Zufriedenheit, die Tour tatsächlich durchgezogen zu haben.

Nun muss ich allerdings wirklich eingestehen, dass das 220 Kilometer „Radwandern light“ war. Kurze Tagesetappen, kaum Steigungen, freundliche Unterstützung durch die Ardenner und das Ganze, wenn auch gelegentlich mit heftigstem Gegenwind, bei angenehmen Temperaturen in den unteren Zwanzigern.

Also etwas ganz anderes als die Wanderungen bei über 30° in der Eifel.

Mindert aber in keinster Weise meine Freude am Erreichten.

Bleibt nur noch eines: uns von den Ardennern zu verabschieden und es irgendwie zu organisieren, mein Auto wieder in Mühlhausen abzuholen.

Die Deutsche Bundesbahn schlägt uns da etwas vor, pünktlich jede Stunde um „acht nach…“, wobei die Verbindungen zu den ungeraden Stunden mit nur einmal Umsteigen deutlich kürzer und attraktiver sind. Dann nehmen wir mal den Zug um 11:08. Die Bahn gibt uns einen Preis an, was heißt einen, gleich drei, je nachdem, wie flexibel wir sein möchten. Kurz bevor wir auf eine Alternative klicken, flüstert sie uns „Sachsen-Anhalt-Ticket“ zu. Unschlagbar preiswert, Kinder und Kindeskinder in unbegrenzter Anzahl dürften wir auch kostenlos mitnehmen, erwachsene Begleiter zum halben Preis. Einzige Bedingung: nicht vor neun Uhr morgens. Das kriegen wir hin, problemlos, denken wir und erwerben per Mausklick das Recht zu zweit durch ganz Sachsen-Anhalt zu gondeln. Wir freuen uns sehr, bis Monsieur plötzlich meint: Sag mal, liegt Mühlhausen nicht in Thüringen?

Aber auch das kann uns nicht stoppen. Monsieur will noch rasch den Naumburger Markt ohne Töpfer fotografieren, dann kommt unser Taxi. „Wo hammse denn die Räder?“, flachst der Fahrer uns an, Koffer mit Fahrradhelm in den Kofferraum hievend. „Zum Uffblasen im Koffer?“

Zwei Stunden und einmal Umsteigen später können wir unser Auto aus der Hotelgarage holen – und dabei die Schlüsselkarte zurückgeben, die seit fünf Tagen in meiner Hosentasche wohnt.

Dann geht es weiter nach Weimar, wo wir Freunde treffen wollen. Wir kennen uns schon ziemlich lange, deshalb habe ich schon vorher etwas ausgemacht: Goethe-Bashing höchstens zweimal am Tag.

Ausgetrickst

Regen, sagt die Wettervorhersage gestern, ab zwölf Uhr. Und nicht die „ein Millimeter mit 30%er Wahrscheinlichkeit“-Variante. Nein, in Naumburg soll es um zwölf Uhr richtig schütten und das durch bis zum Abend.

Also beschließen wir das Wetter auszutricksen. Stehen um sieben Uhr auf, sind ein wenig später abfahrbereit. Monsieur schaut noch mal nach dem Regen, nun heißt es plötzlich Naumburg, 18 Uhr. Da stehen wir nun in der morgendlichen Kühle und sinnieren, wer hier wohl wen ausgetrickst hat.

Los geht es in den frischgeputzten Sonntagmorgen. Nebra ist ein wenig verwirrend – wir biegen eine Einfahrt zu früh links ab und landen in einer Gartenkolonie, Sackgasse – und dann auch noch sehr steil. Aber danach geht es wieder schnurgerade aus durch die Ebene. Am linken Ufer grüßen prächtige Barockbauten und in Karsdorf ein kleiner Radler- und Kanufahrertreff. Der Kaffee ist eher mittelmäßig, dafür macht es Spaß, einer giggelnden und kichernden Jugendgruppe zuzuschauen, wie sie sich gegenseitig mit Schwimmwesten ausrüsten für ihre Kanutour. Ein nicht ungefährliches und noch dazu illegales Unterfangen, wie wir später herausfinden sollen.

Laucha und sein Fliegerhorst kündigen sich an durch die Segelflieger, die still über unseren Köpfen drehen. Die Stadt hat ein sehr schönes altes Rathaus, eine dito Kirche, fotografieren kann man beides nicht, weil Autos drei Reihen tief davor parken. Auf unserem Radweg wenig später, durch den Park hinter der Stadtmauer, da sieht Laucha noch recht mittelalterlich aus.

Wir nähern uns Freyburg und damit dem Grund eines kleines Streitthemas zwischen uns: ist der Besuch der Rotkäppchen-Kellerei Kulturprogramm oder nicht? Rotkäppchen ist Kult, das wissen wir, wir mögen den Sekt eher nicht, auch das wissen wir. Trotzdem argumentiert Monsieur pro und ich contra. Das Schlussargument hat das Wetter, dass sich zunehmend dunkler und dräuender gibt. Also drehen wir nur eine Runde durch die Pflasterstraßen Freyburgs, um dann die letzten Kilometer bis zur Unstrutmündung anzugehen, vorbei am Herzoglichen Weinberg und dem Max-Klinger-Haus. Die letzte Sehenswürdigkeit vor Naumburg verpassen wir beinahe. Das sogenannte Steinerne Album – eine in den Felsen gehauene Bildergeschichte aus dem 18. Jahrhundert – ist zum einen stark verwittert, zum anderen hinter den üppigen Brombeer- und Wildrosenhecke auf der Weinbergmauer kaum zu sehen.

Und dann ist sie da: die Saale. Wir stehen an einem kleinen Bootsanleger mit dem schönen Namen: Im Blütengrund. Vor uns die Saale, rechts die Unstrutmündung. Daneben die „Fröhliche Dörte“ und die „Unstrutnixe“. Dazwischen ein beunruhigend klein wirkender Nachen an einem Stahlseil. Hinter uns steht ein altes Holzhaus mit einer Vielzahl beeindruckend großer Zahnräder und einem Vierkantrohr in knallrot. Auf dieses Rohr muss man mit der beiliegenden Eisenstange schlagen, um mit dem weitklingenden Glockenschlag den Fährmann zu rufen. Das war noch ein Sorgenkind. Denn ab vorgestern ist auf der Unstrut jegliche Schifffahrt eingestellt und das Baden strengstens verboten. Weil – und jetzt nicht lachen – Angler ein zwei Meter langes Krokodil gesichtet haben. Was die Wasserpolizei ihnen geglaubt habt.

Falls das also auch unsere Fähre betrifft, müssten wir zwei Kilometer weiter radeln zur nächsten Brücke, an der Saale entlang.

Aber da schlurft der Fährmann schon vor uns zum kleinen Nachen. Die Ardenner scheuen und bocken etwas die vier Treppenstufen hinunter in das Boot, das gleiche beim Ausstieg ein paar Minuten später. Zwei Euro fünfzig hat das Abenteuer uns gekostet, einsfünfzig für mich, einen Euro für das Rad.

Auf der anderen Seite gibt es einen kleinen triumphierenden Handschlag und ein letztes Winken für die Unstrut.

Die nächsten knapp zehn Kilometer sind wir auf dem Saale-Radweg unterwegs, der uns als erstes zu einer sehr unappetitlich wirkenden Bahnunterführung mit zwei Treppenfluchten führt. Das ist der Teil, den wir sehen können, keine Ahnung, wie es auf der anderen Seite aussieht. Das mit den Ardennern zu stemmen scheint uns eher zu mühsam, also setzen wir auf ein paar Kilometer Umweg, die uns dann eine Viertelstunde später über Kopfsteinpflaster an einem alten Stadttor vorbei in die Stadt bringen.

In Naumburg ist Töpfermarkt. Und so gibt es neben exquisiter Kunst, Sahne- und Mokkacremetorte auch noch etwas Schönes in einem traumhaften Blau für mich.

Das habe ich mir wirklich verdient!

Achja, der Regen fing – als Kompromiss wahrscheinlich – um 15 Uhr an.

Eine Scheibe abschneiden

Artern, eigentlich Monsieur, hält noch eine letzte Überraschung für uns parat: eine „Abkürzung“, die 12 Treppenstufen beinhaltet und einen steilen Trampelpfad eine Böschung hoch. Alles Teil eines Wanderwegs, für die Ardenner aber eher schwer, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber kaum sind wir wieder auf dem rechten Pfad (klingt sehr tugendhaft, nicht wahr), wird es wunderschön. Die weite Landschaft um uns herum, das Schnurren der Räder, das Rauschen der Pappeln als einziges anderes Geräusch, wir sind allein auf der Welt. Deshalb haut es mich vor Schreck fast aus dem Sattel, als von hinten ein Hallo! kommt, bevor ein Rennradfahrer an mir vorbeischießt.

In Schönewerda biege ich links ab, Monsieur schließt auf. „Willst du wirklich in den Ort? Oder hast du nur das Schild nach rechts übersehen?“ Da muss ich natürlich erst mal bis zur Kirche weiterfahren, geschlossen, klar doch, bevor ich ihm meinen Fehler zugestehe.

In Bottendorf ist er es dann, der uns abbiegen macht. Von unten, von der Unstrut aus, sieht man einen Burgturm. Den wollen wir erforschen, in der Hoffnung, dass es da vielleicht eine Burgschänke o.ä. gebe. Wir fahren hoch in den Ort. Dort gibt es alles: eine Burgstraße, eine Straße Zum Burggraben, eine andere Zur Burg – nur eben nicht den Turm. Irgendwann stehen wir auf Steinplatten auf einer Wiese vor der Kirche, umgeben von hohen Mauern. Wahrscheinlich duckt sich der Turm dahinter und wartet, bis wir wieder weg sind. Monsieur dreht und fährt los, da passiert es: es haut mich der Länge nach hin. Typisch Paonia, nicht dramatisch mit 35km/h aus der Kurve fliegen, nööö, fast im Stand beim Wenden einfach umkippen. Außer meinem Stolz kommt niemand und nichts zu Schaden, allerdings dauert es einen Moment, den Ardenner zum Aufstehen zu überreden. Monsieur, der von alldem nichts mitbekommt, wartet unten am Radweg auf mich. „Du hast eine Burg gut bei mir,“ meint er.

Die kann ich dann noch nicht einmal einlösen, denn wir dürfen die nächste Burg gar nicht anfahren. Wendelstein, hatte ich Monsieur Angst gemacht, da geht es richtig den Berg hoch. Aber zuerst kommt die Grenze. Wir verabschieden uns von Thüringen und rollen nach Sachsen-Anhalt. An der Unstrut, lange vor dem gefürchteten Berg, steht dann die Straßensperre mit der Umleitung. Die Straße ist nicht nur garniert mit den entsprechenden Verbotsschildern, es stehen, hintereinander gestaffelt, mehrere Reihen rotweißer Absperrungen. Hier meint es jemand offensichtlich richtig ernst mit dem „Ihr kommt hier nicht durch!“ Also nehmen wir statt des Lieserpfad-Ansatzes über den Berg hinüber den Unstrut-Ansatz unten durchs Tal bis Memleben, Klosterruine und Kaiserpfalz. Das stand schon lange vorher so angeschrieben. Im Ort selber prangt über zwei Hauswände „Klosterruine und Kaiserpfalz“, auf den Hinweisschildern, dem Besucherzentrum, den Eintrittskarten, überall verkündigen sie „Klosterruine und Kaiserpfalz“. Sogar auf dem Faltblatt zum Besuch steht noch Klosterruine und Kaiserpfalz. Innen drin sind sie dann etwas kleinlaut, weil, also, ja, nämlich, eigentlich, das gar nicht stimmt, das mit der Kaiserpfalz. Deren Lage hier ist nämlich gar nicht gesichert. Das hat der Herr Schinkel sich bei einem Besuch ausgedacht, als er die Ruinen der schon im Mittelalter abgebrochenen (und in der Klosterkirche recycelten) großen Kirche als Palastruine erkannte und sie flugs zum Beweis für die Existenz der Kaiserpfalz an diesem Ort deklarierte.

Schön ist es trotzdem, das Gelände, wir sitzen im Schatten romanischer Bögen bei einem kleinen Imbiss, Stärkung für die letzten Kilometer und den Höhepunkt – in mehrfacher Hinsicht – des heutigen Tages.

Nicht Nebra ist unser Ziel, unser Hotel liegt kurz davor in Wangen. Wir hatten noch hin und her überlegt, ob erst Hotel, dann Museum oder erst Museum und dann Hotel. Erweist sich als überflüssig, das Hotel liegt am Fuß der Rampe zur Arche Nebra. Also nehmen wir den Ardennern die Satteltaschen ab und gönnen uns eine kleine isotonische Stärkung, bevor es steil den Berg hoch geht, erst einmal am Museum vorbei zum Fundort der Scheibe. Der Turm dort wirkt leider ziemlich furchtbar und völlig fehl am Platze. Die ganze Symbolik, die Ausrichtung zur Sonnwende kann mir leider nicht darüber hinweghelfen, dass man einen potthässlichen Betonklotz mitten in eine Waldlichtung mit frühzeitlicher Ringwallanlage geknallt hat. Also macht Monsieur ein paar Fotos und dann sausen wir die mühsam erklommenen Höhenmeter wieder hinunter zum Museum.

Das Museum ist dann eine ähnliche Erfahrung wie in Bramsche mit dem Varusschlacht-Museum. Sie haben eigentlich nichts, was sie zeigen können, aber das verkaufen sie ganz gut. „Seit 3600 Jahren kann sich die Welt hier eine Scheibe abschneiden, Sachsen-Anhalt“, wirbt die Landesregierung direkt vor der Tür. Im Inneren erfahren wir viel über andere Sonnenobservatorien und bekommen im Planetarium die Symbolik und Bedeutung der Scheibe aufgedröselt.

Seltsame Objekte mit Glaslinsen erlauben Blicke auf das Herstellungsverfahren, die Sicheln und Kreise der Scheibe drehen sich in einem riesigen Mobile, wie zugekifft wirkende hyperaktive Schamanen springen in optischen Theatern umher und erzählen so viel so schnell, dass ich nach ein paar Augenblicken nicht mehr zuhören mag. Wissen wird trotzdem an mich herangetragen, denn es laufen drei oder vier Führungen um mich herum. Am schönsten finde ich den eher privaten Abschluss einer Führerin, nachdem sie die abenteuerlichen illegalen Wege der Scheibe aufgezeigt hatte. „Und nu? Letztens waren sie im Fernsehen, die zwei. Job weg, Ehe kaputt und pleite dazu – neee, das hättense sich nich träumen lassen damals. Wennse des gewusst hätten, hättense se liegen lassen, die Scheibe.“ Wäre aber auch irgendwie schade gewesen, nicht wahr?

Zutiefst beeindruckt radeln wir bergab zum Hotel. Es ist wieder ein historisches Haus, wir sind wieder im zweiten Stock untergebracht und es gibt wieder keinen Aufzug. Aber ein sehr netter Mensch hat unsere Koffer schon die 56 engen Holzstufen hochgetragen und in unser Zimmer gestellt. Toller Service, da könnten die anderen Hotels sich mal eine Scheibe abschneiden.

Streik!

Herbstlich nasses Laub raschelt unter dem Gewicht der Ardenner, letzte Regenreste tropfen von oben auf die Helme. Vor uns verschwindet der Weg im geheimnisvollen Dunkel undurchdringlich scheinender Wälder. Klingt klasse, nicht wahr, ist aber nur der Stadtpark Sömmerda auf seinen letzten Metern.

Das mit dem Gewicht der Ardenner ist eine freundliche Umschreibung für eine Frage, die uns die letzten Tage beschäftigt hat. Vorgestern, in Bad Langensalza z.B. habe ich schüchtern angefragt, ob ich eventuell, möglicherweise, vielleicht, etwa noch einen dritten Kloß zu meiner reichhaltigen Soße bekommen könnte. Kurz drauf wurden mir zwei(!) weitere Klöße gebracht, die ich – ohne rot zu werden und mit viel Genuss – verspeist habe. Schließlich hatten wir an dem Tag kein Mittagessen und die anderthalb Stücke Kuchen pro Person im „Schwesterherz“, ach, das zählt ja fast gar nicht. Gestern gab es ein Mittagessen und trotzdem wieder Klöße zum Abendbrot. Halt, das stimmt nicht ganz, Klöße gab es für Monsieur, bei mir waren es Semmelknödel (drei an der Zahl) zu den Pfifferlingen. In Sahnesoße…

Deshalb bewegt uns die Frage, ob die paarundvierzig Kilometer der Tagesetappen wirklich ausreichen, diese Kaloriensünden abzuarbeiten. Wir werden am Ende der Reise ein Resümee ziehen – und bis dahin weiter die thüringische Küche genießen. Auch wenn wir wahrscheinlich „Dorade mediterran: Makrelenfilet mit Paprika und Reis“ nicht enträtseln werden können.

Hinter Leubingen lernen wir ein neues Wort kennen: Flutmuldenkante. Auf deren Krone läuft inzwischen der Weg und ich bin beeindruckt, liegt doch die Unstrut brav und unschuldig gute sechs bis acht Meter unter uns. Noch beeindruckender ist die Tatsache, dass rechts von uns, landeinwärts in etwa fünfzig Meter Entfernung massive und hohe alte Erddämme laufen. Hätten wir der Unstrut gar nicht zugetraut, solche Flut-Eskapaden.

Von der Unstrut geht die Lossa ab, der wir durch ein, zwei Dörfer folgen, idyllische Ausblicke auf das Flüsschen inklusive. Kurz hinter Eltzleben passiert das Unerwartete: nicht ich werde von anderen überholt, nein, ich setze an und ziehe zügig an dem durchaus sportlich wirkenden Mann vorbei. „Hast du gesehen?“ rufe ich Monsieur zu, „ich habe einen anderen Radfahrer überholt.“ – „Und der hat noch nicht mal gestanden!“, kommt von Monsieur ein Daumen hoch. Hmmm, ich nehme das jetzt mal als ein Kompliment.

In Gorsleben lockt uns ein „Radler-Stopp“ in den Ort. Der Stopp ist zwar geschlossen, dafür stehen wir kurz darauf vor einer äußerst faszinierenden alten Hofanlage. Nebendran eine Kirche, von hoher Mauer umgeben, daran eine etwas makabre Sonnenuhr. Zeiger ist nämlich die Sense des Sensenmannes, der uns dann auch noch im mittelalterlichen Text ermahnt, dass unsere Stunde jederzeit kommen kann. Wir nutzen daher die Gunst der Stunde, um nach Heldrungen weiterzufahren.

Da hatte ich so ein Bild vor Augen, wie die Ardenner mit verhängten Zügeln über die Zugbrücke der Wasserburg sprengen, bevor wir uns und ihnen eine Pause gönnen. Aber da legt Corona die Lanze ein, postiert sich vor der Brücke und sagt: hier kommt keiner rein. Um das Ganze noch deutlicher zu machen, sind die schweren Flügeltore verrammelt und das kleine Seitentor auch. Also begnügen wir uns mit einmal drumherum fahren statt einfach mitten hinein. Beeindruckend ist die Anlage auch von außen.

Unsere kleine Rundreise hat uns abgebracht vom Hauptweg und als wir an einer Kreuzung in die Karte schauen, rollt ein Wagen heran. Ob er helfen könne, will der alte Mann wissen und bestätigt uns dann den kleinen Zickzack-Haken, den wir eh geplant hatten. Bevor er wegfahren kann – Ortskenntnisse und so – frage ich ihn noch schnell, ob es hier ein Restaurant gäbe. Da wirft er lachend die Hände in die Luft und macht eine verneinende Gebärde, bevor er losfährt.

Weshalb wir dann recht früh in Artern ankommen, weshalb Artern dann eine kleine Überraschung für uns bereithält. Unser Hotel ist nämlich nicht unten im Ort, sondern oben auf dem 191 Meter hohen Weinberg. Die Straße ist so steil, dass mein Ardenner beim Schalten plötzlich stehen bleibt und dann rückwärts rollt. Panik! Irgendwie bekomme ich den Ardenner wieder an den Zügel gestellt, metaphorisch, und dann ist es im niedrigsten Gang und mit höchster Unterstützung nur ein bisschen schwierig, da hoch zu radeln. Jedenfalls schaut der junge Mann, sein Rad schiebend, den ich überhole, so bewundernd, dass ich entschuldigend „Angebermodus!“ über die Schulter rufe. Hundert Meter weiter, etwas flacher, schießt er dann grinsend an mir vorbei „Eigene Muskelkraft!“

Im Hotel erhalten wir ein Zimmer im zweiten Stock – wegen der schönen Aussicht. Natürlich ohne Lift. Wir hieven die Fahrradtaschen und die eingetroffenen Koffer die Treppe hoch, öffnen die Tür und sehen die Aussicht – auf den riesigen Baum direkt vorm Fenster.

Macht aber nichts, denn von der Terrasse, natürlich zwei Treppen tiefer, ist die Aussicht da: auf Artern, seine zwei mittelalterlichen Kirchen und das neobarocke Rathaus mit der Bismarck-Figur im Erker. Die Kirchen werden eh geschlossen sein und für ein neobarockes Rathaus mit Bismarck-Figur im Erker fahre ich nicht nochmal den Berg zum Hotel hoch. Also rufe ich einen Streik aus und lasse Monsieur allein losziehen. Kunst (wenn man das denn so sehen will), kann ich auch von der Terrasse aus haben. Mit dem Kyffhäuser-Denkmal. Doch, doch, ihr müsst nur ganz genau hinschauen. Doch, doch, da rechts auf dem Berg. Genau! Richtig!

Gedopt

Unser Hotel in Mühlhausen war sehr schön, die Pension in Langensalza ist eher etwas speziell. Wir müssen uns abends festlegen, wieviel Brötchen wir morgens zum Frühstück haben wollen, vier, trotzdem liegen nur zwei im Brotkorb. Kein Problem, denken wir, bestellen wir gleich noch zwei nach. Nein, nein, das ginge nicht, sagt uns die Wirtin, wir hätten doch nur zwei geordert. Da kommt vom Nachbartisch: „Das waren wir, mit den zwei Brötchen. Wir haben uns schon über die vier Brötchen gewundert…“

Wir klappern ein letztes Mal über das Kopfsteinpflaster in Langensalzas Gassen bis zum Kurpark, da fährt es sich angenehmer. Kaum sind wir aus dem Ort wieder draußen, wird es verwunschen. Die Wege sind nicht mehr asphaltiert und der tiefe Sand an manchen Stellen bringt mein Zutrauen in meine frisch errungene Radfahr-Kompetenz ins Schlingern, im wahrsten Sinne des Wortes. Dafür wird das Unstrut-Tal immer schöner. Weiden machen ihre eigene kleine Kunstausstellung, auch wenn einige Kirstin-Opfer zu beklagen sind. Störche staksen durch die Aue (Pluralbildung hier zugegebenermaßen an die Einhorn-Ausstellung angelehnt).

In Großvargula werden wir umgeleitet. Es stehen da wirklich offizielle große gelbe Verkehrsschilder mit der Aufschrift Umleitung Unstrut-Radweg. So verpassen wir die Ansicht des Wasserschlosses. Da aber dieses und andere Schlösser abwechselnd Internate oder Altersheime – und nicht zu besichtigen – sind, kommen wir touristisch unbeschwert weiter. Nur die eine Burgruine – das muss dann sein – wo sie schon mal da ist.

In Herbsleben bewundern wir Wehr und Mühle. Ein alter Mann mit noch älterem Hund gesellt sich zu uns und erklärt uns, dass die Mühle Strom produziere, „damals“ genug für ganz Hersleben – „Wir brauchten ja nicht viel“, heute fürs Netz.

Im nächsten Ort zieht der Gemeindearbeiter just ein paar Meter vor uns den von Kirstin er- und von ihm zerlegten Baum von der Trasse, vielen Dank auch.

Auf den asphaltierten Stücken geht es mit ein bisschen Unterstützung munter voran. Eine langgezogene Steigung locker und ohne viel Anstrengung hoch zu radeln, das ist schon etwas Feines und meilenweit entfernt vom mühsamen Keuchen von früher, in den Pedalen stehend, hin- und herschwankend. Erinnert ein bisschen an Lance Armstrong und Jan Ulrich, die bei der Tour de France „unseren“ Col de la Faucille hochradelten, locker, gelassen, dabei entspannt plaudernd. Aber die waren da gedopt. Wir sind höchsten high von den eigenen Endorphinen.

Monsieur macht mir ein Geständnis. Nein, kein romantisches, aber ein ehrliches. Er gesteht, dass er fest damit gerechnet habe, dass er nach dem ersten Tag alleine radelt, während ich mit dem Auto von Hotel zu Hotel hinterher reise. Da er aber so zerknirscht dreinschaut und sich genauso wie ich an meiner Freude erfreut, kann ich ihm das nicht übelnehmen. Mir bleibt ja immerhin die fröhliche Genugtuung, ihm das „Ich hab‘s ja gleich gewusst“ verbaut zu haben.

Aber alle Endorphine können gegen Mittag nicht so recht über ein kleines Hüngerchen hinweghelfen. An der Brücke in Ringleben steht ein Schild „Zum Engel“ in Hassleben. Na gut, hängen wir die paar Kilometer auch noch dran, auf Kopfsteinpflaster. Noch etwas, gegen das Endorphine auch nur begrenzt helfen. Früher, da dachte ich:  Kopfsteinpflaster, wie malerisch, wie romantisch altmodisch. Heute denke ich bei jedem einzelnen Pflasterstein: Oh-mein-ar-mer-Po! Und es sind viele Pflastersteine bis Hassleben und durch Hassleben hindurch zum „Engel“. Der dann zu hat, der Engel, denken wir. Tür zu, keine Stühle draußen, schade! Die hauseigene Landmetzgerei im Haus nebenan aber nicht. Also Planänderung: statt nett essen zu gehen, ein Wurstbrot auf die Faust. „Schon schade, dass drüben zu hat,“ sage ich zu der Verkäuferin, die abwinkt. „Gehen Sie nur hier durch in den Hof, wir haben auf.“

Im Hof stehen mehrere Tische, schon gedeckt und davor Stühle mit einer der genialsten Erfindungen – weichen Sitzkissen. Aaaah!

Die Dame kommt dann fröhlich mit der Karte und ihren Empfehlungen. Ich wollte ja schon immer das berühmte Würzfleisch probieren. „Bisschen Kartoffelbrei dazu?“ fragt sie, „frisch gemacht. Ist doch eh leckerer als Toast.“ Wo sie Recht hat…

Während wir essen, zieht es sich immer dunkler zu, so dass wir auf den Kaffee verzichten und die letzten Kilometer nach Sömerda in Angriff nehmen. Eine Herde Schafe als Straßensperre kommt uns noch kurz in die Quere, dann sind wir da.

Eine richtig schöne Etappe war das heute, 48 Kilometer mit allen Umleitungen und selbst gewählten Umwegen. Sehr stimmig.

Da ist es dann auch nicht so schlimm, dass mir unser Zielort, Sömerda, gar nicht so recht gefallen will.

Vom Winde verweht

Oder: Ardenner versus Kirstin. Die Ardenner retten den Tag. Die durchaus erträgliche Nicht-Leichtigkeit ihres Seins hilft uns gegen das Sturmtief Kirstin.

Und die Thüringer Klöße von gestern Abend. Wir sind nämlich gestern in die lokalen Spezialitäten eingetaucht, erst ein Glas „Rotkäppchen“ (lauwarm, „Tschuldigung, die Kühlung ist kaputt und der Techniker kommt erst morgen.“), um den erfolgreichen Start des Fahrradabenteuers zu würdigen, dann die Klöße. „Zum Glück haben wir die große Portion bestellt, das beschwert,“ ruft Monsieur mir gegen den Wind zu.

Das mit dem Layout, das üben wir noch mal, ja? Das mit dem „h“ auch, ok?

Wir haben das Losfahren lange hinausgezögert. Gestern Abend ist Monsieur noch mal losgezogen, durch Mühlhausen und kommt zurück mit: „Du, die haben in der Marienkirche eine sakrale Kunstausstellung zu Einhörnern und Drachen.“ Er hebt beim letzten Wort so ein bisschen die Stimme an, macht den Satz zur Frage. Dabei steht da schon außer Frage, dass ich das sehen will. Kunst, da kann man so viel lernen – ich meist das Falsche – und außerdem ist Kunst hier und heute gut als Ausrede gegen Sturm und Regen. Als erstes lernen wir, dass das mit dem Plural so eine Sache ist. Sie haben nämlich von jedem tatsächlich genau zwei, Einhörner und Drachen. Das ist zwar vom grammatikalischen Standpunkt aus durchaus korrekt und ausreichend, vom Besucherstandpunkt aus aber ein bisschen unbefriedigend. Gut, bei dem einen Drachen kann man lernen, dass es mehr als nur den Standardansatz – Lanze in Flanke – gibt. Bei diesem Standbild haut der heilige Georg dem Drachen seinen Schild voll in die – fängt auch mit F an. Das ist gut zu wissen, falls man mal einem Drachen begegnet und zufällig nur einen Ritterschild dabeihat.

Die zwei Einhörner, ein weißes, ein braunes, sind eigentlich eher traurig. Das braune ist ein eindeutiges Fake, Rehkopf mit angeschraubtem Horn, und das weiße, das tut mir einfach nur leid. Erstens: Knickhorn würde es besser treffen und zweitens: das arme Tier kommt wegen des überlangen Knickhorns gar nicht mit dem Maul auf den Boden, ist also, dünn und mager, kurz vorm Verhungern. Und Maria, deren Jungfräulichkeit das arme Tier beweisen soll, kommt wohl auch nicht auf die Idee, es zu füttern. Armes Einhorn, kein Wunder, dass es ausgestorben ist.

Sehr spannend finde ich dagegen die Maria und dem Einhorn beigestellten Jagdhunde, die alle wie ein kleines Banner den Namen der Tugend tragen, die sie verkörpern sollen. Die „Veritas“ ist mit einem dicken Würgehalsband fast geknebelt. Die „Misericordia“ sieht aus wie eine unendlich sorgenvolle Bulldogge. Kann man sicher auch wieder viel lernen, wird aber wahrscheinlich eh das Falsche sein.

Nach so viel Kunst – und Geschichte vorher im Bauernkriegsmuseum – haben wir dann wirklich keine Ausrede mehr. Die Strecke ist – erst einmal aus Mühlhausen heraus – richtig schön. Es begegnet uns – bis eigentlich Ortsgrenze Langensalza – ein einziges Auto. Kühe, Schafe, Gänse gibt es deutlich mehr. Die Unstrut ist hier gelegentlich hinter hohen Deichen versteckt und das setzt uns auf diesen Deichen dem Sturm aus. Ab und zu lupft eine Böe die Ardenner an und schiebt sie zur Seite. Und auf der einen schmalen Gitterstegbrücke über die Unstrut, da bin ich bei den Böen wirklich dankbar für das Geländer rechts und links. Ansonsten beutelt der Sturm die Pappeln am Ufer, er wirbelt die Weiden durcheinander, lässt Kastanienbäume uns mit den Früchten bombardieren.

Die Ardenner müssen lernen, größere Äste auf den Wegen zu umfahren, über kleinere preschen sie hinweg. Bei ganz großen Ästen quer, da steigt Monsieur dann ab und zieht sie vom Weg.

Da der Sturm aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen scheint, bläst er auch – selten – von hinten. Wir kommen also sehr gut voran und Monsieur lobt meinen flotten Fahrstil. Ich finde den auch gut. Darf nur nicht vergessen, bei jedem kleinen Pausenstopp – Jacke an oder Kühe fotografieren oder Jacke wieder aus oder Gänse fotografieren oder an einer Apfelwiese mal kurz – ach nein, noch nicht, schade… – unauffällig von Turbo auf Eco zurückzuschalten, damit mir Monsieurs gute Meinung erhalten bleibt.

Wir machen kurze Abstecher zu Dörfern am Weg, auf der Suche nach einem Kaffee, werden aber nicht fündig, die Straßen wie ausgestorben. Meist glucken um eine kleine knuppelige Kirche ein paar Handvoll Fachwerkhäuser, in den Außenbezirken oft erstaunliche Neubaugebiete. Ab und an sehen wir eine tote LPG mit verfallenen Gebäuden und vor sich hin rostenden Fahrzeugen im hüfthohen Gras.

Gegen die Pflasterstraßen in den Dörfern habe ich mir gestern noch rasch so ein Lesebrillenband gekauft. Zwar bin ich dadurch in meinen Augen augenblicklich um 20 Jahre gealtert, aber die Idee, dass die Leute denken: Guck mal, sooo alt und fährt noch Rad, tröstet etwas darüber hinweg.

Heute sind es – mit den Abstechern – keine dreißig Kilometer und wir erreichen recht früh Bad Langensalza. Die Pension ist noch geschlossen, aber das ist kein Problem, schließlich ist Langensalza Bad und Kurstadt, also – für mich – das natürliche Umfeld für Grass‘ „kuchenfressende Pelztiere“ und deren Habitat, die Konditorei. Pelztiere sehen wir zwar keine, aber die Kuchenauswahl im „Schwesterherz“ lässt keine Wünsche offen, wenn auch Monsieur beim Nachsatz Frischkäse zu Schoko zusammenzuckt und auf die Eierlikörtorte umschwenkt.

So gestärkt können wir die Fachwerkschönheiten Langensalzas erkunden, das neben viel Schönem auch einiges Fremdartige zu bieten hat.

Den Vogel allerdings – und das im wahrsten Sinne des Wortes – schießt dann unsere Pension ab. Toilettenpapier mit rosa Flamingos drauf. Nicht nur das: rosa Flamingos mit Sonnenbrille. Und die quatschen mich auch noch von links hinten an: Come to the beach with me.

Wenn das nicht exotisch ist! Befremdlich ist es auf jeden Fall…

Das verlernt sich nicht

Nehmen wir mal an, ein normales Fahrrad hätte die Statur eines Isländer-Ponies, gerade so hoch, dass die Füße auf dem Boden schleifen.

Dann tendieren die beiden blauen Stahlrösser, die da in der Fahrradgarage des Hotels auf uns warten, eher in Richtung Ardenner Kaltblut. Wahre Schlachtrösser von Fahrrädern.

Monsieur erkennt sofort das Problem. „Und die willst du in den Zug hieven?“

Das ist nämlich der Plan: die Deutsche Bundesbahn bringt uns – und die Ardenner – bis Silberhausen, von wo wir uns aufmachen nach Dingelstädt, um im benachbarten Kefferhausen bis zur Unstrutquelle zu radeln. Dort geben wir dann die erwarteten Oh’s und Ah’s von uns und drehen die Ardenner wieder in Richtung Mühlhausen.

Nur sehen die Räder so schwer aus, dass uns Zweifel kommen, dass wir sie bei einem Zwei-Minuten-Stopp ein- und ausgeladen bekommen.

Monsieur kommt dann sehr rasch mit so einem „Lass uns doch…“ und ich weiß sofort, dass das wahrscheinlich sehr anstrengend wird.

Also: Lass uns doch von Mühlhausen zur Quelle fahren. Und wenn du dann müde bist, kannst du ja immer noch die Bahn zurück nehmen.

Diese Art von Lass uns doch oder Da könnten wir doch kenne ich nur zu gut, endet meist mit schlechter Laune, weil das Ganze schon seine Gründe hat, weshalb es anders geplant war.

Hier zum Beispiel, dass die Strecke Quelle bis Mühlhausen ca. 200 Meter Höhenunterschied zu bieten hat, bergab in Richtung Mühlhausen und – ja, genau.

Allerdings ist da die Tatsache, dass wir in die Miete von E-Bikes investiert haben (- und selten habe ich mich mehr über gut investiertes Geld gefreut).

Diese Tatsache suggeriert doch eine gewisse Leichtigkeit des Fortkommens und so gehen wir das Projekt an.

Zum ersten Mal seit Jahren schwinge ich mich wieder in einen Fahrradsattel, schließlich verlernt sich das ja nicht. Das geht auch erstaunlich gut, allerdings lerne ich schnell, dass Brille und Kopfsteinpflaster keine gute Kombi sind, die Brille hüpft immer wieder hin zur Nasenspitze. Kaum sind wir aus der Altstadt heraus, ist aber Schluss mit dem Pflaster. Wir fahren auf kleinen Seitenstraßen durch noble Wohngegenden, bis wir – unvermeidlich – zu einem Industriegebiet mit vierspurigen Kreuzungen und viel LKW-Verkehr kommen. Aber da haben die Planer wohl mit solchen Angsthasen wie mir gerechnet. Die Streckenführung vermeidet die LKWs durch drei Fußgängerampeln und dann läuft sie quer über den riesigen Parkplatz eines orangeroten Baumarktes, um kurz darauf in den Wald zu verschwinden. Hier wird der Unstrut-Weg dann so, wie wir es uns erhofft hatten. Im Dunkel des Blätterdaches am Bach entlang, durch kleine Dörfer mit Fachwerkhäusern am Bach entlang, nur in Horsmar nicht, und da wird es schwierig. Da schalte ich nicht schnell genug – im wahrsten Sinne des Wortes und bremse mich selber aus, bis zum lachenden Absteigen. Die Ardenner haben zwar eine Schiebehilfe, aber das lässt mein Stolz dann doch nicht zu. Ich habe mich da reingeritten, ich schiebe dann auch die paar Meter, bis es wieder eben wird. Doch in Helmsdorf ist selbst mit kleinstem Gang und stärkster Unterstützung nichts zu machen gegen 18% Steigung. Da aber da eine Pferdeherde mit vier Fohlen auf der Weide herumtollt, tun wir so, als seien wir deswegen abgestiegen.

Dingelstädt lassen wir erst mal rechts liegen und strampeln weiter bergauf zur Quelle, gefasst in ein seltsames weißes Gebilde. Wir hatten ein Bild davon schon im Radführer angeschaut und gewusst, dass das ziemlich hässlich und maximal unbeeindruckend ist. Etwas, dass die beiden nach uns ankommenden Radler offensichtlich versäumt hatten. Er steigt nämlich ab und motzt sie an: „Und wegen dem Sch..ß hast du mich hierhingeschleppt?“

Also nichts mit Ah und Oh.

Es ist jetzt halb eins, der von uns angeplante Zug geht um halb vier. Mit dem Rad wären es knapp anderthalb Stunden nach Mühlhausen. Anderthalb Stunden, bei noch 80% verbleibender Akku-Leistung und – fast – nur bergab. Das ist schon kein Da könnten wir doch, das ist einfaches Machen wir.

Wir schenken Dingelstädt etwas Aufmerksamkeit, sehr selektiv – Wallfahrtskirche aus dem 19. Jahrhundert? Nein, danke! Neogotische Stadtkirche – dito. Renaissance-Rathaus? Na gut! – und belohnen uns dafür mit einem alkoholfreien Hefeweizen.

Dann sausen wir mit Turbo-Unterstützung durch die Felder und ich rufe stolz meine Geschwindigkeit nach hinten. „Das kann nicht sein,“ kommt es von Monsieur, „ich fahre viel schneller.“ Beim nächsten Stopp stellt sich heraus, dass meine Anzeige auf mph eingestellt ist. Monsieur drückt an allen möglichen Knöpfen, um das umzustellen. Mir ist das egal, ob ich Meilen oder Kilometer abradle, aber er hat das überzeugende Argument: „Du fährst zwar nicht schneller, aber du fühlst dich viel schneller.“

Kurz vor vier Uhr stellen wir die Ardenner in ihren Stall und füttern sie für morgen. Für einen ersten Versuch sind dreiundfünfzig Kilometer nicht schlecht, denke ich stolz, als ich breitbeinig auf das Hotel zustakse.

Anders als beim Wandern an der Lieser sind es diesmal nämlich nicht die Füße, die mir wehtun.

Hanse das auch in anders?

Eigentlich denke ich bei Hanse ja eher an nordische Hafenstädte, Backsteingotik und dickbäuchige Schiffe mit hübschen bunten Segeln.

Mühlhausen passt da nicht so ganz ins Bild, besonders die Schiffe täten sich etwas schwer auf der kleinen Unstrut.

Handel im Rahmen des Städtebundes der Hanse hat es trotzdem reich und mächtig gemacht, was zu zweierlei führte. Eine Menge bunter Fachwerkhäuser und beeindruckender Renaissance-Bauten, die diesen Reichtum zeigen und eine schöne große Mauer um die Stadt herum, um diesen Reichtum zu schützen. Dazu eine Vielzahl von Kirchen; vor der Hauptkirche steht die Statue ihres berühmten Organisten, ein so jugendlich-schlanker J. S. Bach, dass ich ihn ohne die Zuordnung im Sockel fast nicht erkannt hätte.

Die Kirchen sind zum Glück schon geschlossen, als wir uns, angekommen nach neun Stunden Fahrt, auf den Weg machen, das Städtchen zu erkunde. Da bleibt nur Zeitziehen light: Bummeln über Straßen und durch Gässchen.  Vorbei an Häusern, von denen viele eine Plakette tragen, wer hier wann was Wichtiges getan hat. Oder auch nicht.

Das hat sehr viel Schönes, aber auch Fremdartiges:  Stühle und Bänke, die noch verfrorener zu sein scheinen als ich.

Neugierige Pappkameraden, die aus Fenstern lehnen (ein Kunstprojekt des lokalen Gymnasiums).

Restaurants, die ihre Räumlichkeiten anpreisen für Geburtstagsfeiern, Scheidungen und Haftentlassungen.

Man kann auf dem Holzweg sein und in eine Sackgasse geraten.

Das exotischste ist allerdings eine Pizza mit dem vielversprechenden Namen „Italianissimo“, gefolgt von der Präzisierung „chicken döner“.

Ich denke, wir werden hier noch viel Neues sehen.