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Bergweh

Für die, die unter dieser speziellen Form des Fernwehs leiden

Osterblumenstrauß

Oder: Oups, he did it again.

Es war nicht wirklich eine Überraschung, was Herr Macron da verkündete, am Mittwoch. Ein bisschen frech fand ich nur, dass er uns nicht klipp und klar zugestand, wie schwierig das Eingesperrt-Sein sei, sondern vielmehr betonte, wie weniger schlimm das ja nun alles sei, verglichen mit März oder November 2020. Nicht ein, nicht zwei – nein zehn Kilometer Länge hat unsere Hundeleine nun, da sollen wir doch froh und dankbar sein. Und nicht eine Stunde Ausgang hätten wir, nein, wir dürften uns so lange draußen aufhalten wie wir wollten, allerdings – aufgepasst! – um 19 Uhr, da sollten wir wieder zuhause sein, Ausgangssperre ist nämlich immer noch.

Das Ganze gilt ab Samstag, 24 Uhr, eigentlich, uneigentlich aber ab Ostermontag, denn irgendwie müssen die Leute, die schon in Osterferien sind schließlich nach Hause kommen dürfen.

Achja, den Entschuldigungszettel vom letzten Mal, in dem wir akribisch auf- und unterschreiben mussten, wer wir sind, wo wir wohnen und warum, bitte schön, wir eigentlich und seit wann dieses Zuhause verlassen hätten, den bräuchten wir dieses Mal auch nicht, dafür sollten wir dann doch bitte ein „justificatif de domicil“ dabei haben. Wer Frankreich kennt, weiß, dass es die Strom- oder Telefonrechnung tut, die hier als hochoffizielle Anmeldebescheinigung Dienst schiebt.

Wir sind ja sehr gut- und langmütig, aber diesmal dachten wir: Nein! Bevor uns Herr Macron unseren traditionellen Osterspaziergang, die Blümchen-Guck-Wanderung auf dem Vuache, deutlich mehr als zehn Kilometer entfernt, klaut, da büxen wir aus und verlegen das Ganze vor auf Freitag.

Der Vuache ist nicht so richtig hoch, er kommt mit Anstrengung auf 1101 Meter. Da wir aber in Chaumont parken, bei 600 Meter, kommt da doch so einiges zusammen, wie etwa 400 Höhenmeter auf den ersten anderthalb Kilometern. Das Ganze auf einem Weg, der eher einem trockenen Sturzbach ähnelt. Monsieur findet, das sei ein sehr schöner Weg, ich dagegen empfinde es als eine üble Schinderei, die so gar nichts mit Spaziergang zu tun hat. Als wir auf der traditionellen Picknickwiese ankommen, habe ich zum Glück gar keine Luft, um meinem Unmut eben diese zu machen.

Ein leckeres Sandwich und einen Apfel weiter sieht die Welt ein bisschen besser aus. Das Alpenpanorama ist zwar nicht zu sehen, sehr diesig, tut trotzdem das seine, um die Laune zu verbessern.

Richtig gut gegen schlechte Laune sind die kleinen, gerade gekeimten Bucheckern. Niedliche kleine Ballerinchen, tanzen sie zu Füßen der alten Bäume und können sicherlich gut „Wenn ich mal groß bin“ träumen.

Kurz darauf sind wir am Waldrand und damit beim Grund für diese Wanderung: tausende von Hundszahnlilien, Osterglocken, Lerchenspörnen (?), Scilla und Gelbsternchen rollen einen bunten Teppich zu unseren Füßen aus. Ein wahrer Osterblumenstrauß. Die Grundfarbe legt die Vinca mit ihren dunkelgrünen Blättern, deren Blüten sich hier nicht mit ihrem hellen Blau begnügen, hier weben sie Blütensterne in dunklem Purpur und blassem Lila dazwischen. Diesmal liegt es nicht an der – inzwischen moderaten – Steigung, dass wir nicht weiterkommen, diese Schönheit muss gebührend bewundert und festgehalten werden. Die Blütenpracht wird abgelöst durch weite Bärlauchflächen. Es dauert ein paar Momente bis mir klar wird, woher meine plötzliche Lust auf Garnelen mit Aioli oder Lammkeule mit Kräuterkruste kommt.

Irgendwann erreichen wir unser Ziel, den überaus unbeeindruckenden Tumulus, der die 1101 Meter hohe Bergkuppe krönt. Dieser Steinhügel wird von Jahr zu Jahr höher und es gibt Gerüchte, dass der Vuache vor dieser Aktion nicht über die 1096 Meter hinausgekommen wäre.

Für den Rückweg nehmen wir dann nicht den Sturzbach, sondern laufen im weiten Bogen bis nach Cortagy. Breite Holzabfuhrwege verlassen wir zugunsten romantisch-moosüberwucherter alter Pfade. Ich bilde mir da immer gerne ein, dass hier schon seit Jahrhunderten die Bauern mit ihren Eiern oder ihrem Käse zum Nachbardorf gelaufen sind.  Monsieur hebt einen vom Sturm abgerissenen Mistelzweig auf, danach wird es sogar noch romantischer.

Als uns Mutter Natur am Waldrand auch noch mit Morcheln überrascht, bin ich fast versucht, Herrn Macron dankbar zu sein, dass er uns quasi den Freitag aufgedrängt hat. Am Sonntag wären die Pilze bestimmt nicht mehr da gewesen. Wie gesagt, fast. Ganz so weit würde ich dann doch nicht gehen.

Nach fünf Stunden, elf Kilometern und vielen, vielen Bildern kommen wir wieder am Auto an.

Bärlauch und Morcheln haben wir gefunden, wo ich zuhause Eier finde, weiß ich.

Das Abendessen ist gesichert.

Eigentlich sollte ich

Eigentlich sollte ich „Eigentlich sollte ich…“-Sätze gar nicht erst schreiben.

Die klingen schon vom ersten Wort an nach verpasster Chance, nach „hätte ich doch“ und „wäre ich bloß“.

Das stimmt natürlich und auch wiederum nicht.

Eigentlich sollten wir jetzt in Bordeaux sein, ein Geburtstagsgeschenk einlösen, das wir Anfang Juni, im ersten Überschwang des aufgehobenen Hausarrests verschenkt haben. Drei Tage Bordeaux, Kultur und art de vivre, Klimt-Widerschein im Wasser eines Marine-Hangars, Bummeln, kleine Bistros, Museen und natürlich Wein.

Hatten wir auch fest vor, bis die zweite Welle über Frankreich fegte und die Covid-Neuerkrankungen auf über 10 000 pro Tag anstiegen. Bis alle Autoritäten vor nicht notwendigen Reisen warnten, bis uns die Rückkehr aus Aquitanien (auf der roten Liste der Schweiz und der BRD) jeden potentiellen Grenzübertritt  unmöglich gemacht hätte.

Na gut, dann setzen wir uns mit unserer Freundin eben auf unsere Terrasse und öffnen eine Flasche Bordeaux, hat ja auch viel Schönes.

Fahren statt ans Meer zum Wandern in die Alpen, wobei die ersten paar Hundert Höhenmeter freundlicherweise von einer Seilbahn übernommen werden sollten. Dachten wir.

Das allerdings wird nicht passieren. Schon ein Blick aus dem Fenster zeigt uns Genf in Wolken gehüllt, selbst der Salève, direkt hinter der Stadt, ist kaum auszumachen. Und der Mont Blanc? Welcher Mont Blanc? Hier gibt es keinen Mont Blanc zu sehen.

In die Alpen zu fahren, wenn die Alpen ein einziges „Eigentlich sollten hier“ sind – ach, nein danke.

Also besinnen wir uns ganz weise auf „weniger ist mehr“ mit dem Jura. Um die Dôle ein bisschen ärgern, denken wir den Mont Tendre an, genau zwei Meter höher und damit höchste Spitze auf der Schweizer Seite der Kette. Allerdings ist das auch so ein „eigentlich könnten wir“, denn wir wollen so lange auf dem „Chemin des Crêts“ laufen, wie wir Spaß dran haben, ehrgeizige Ziele haben wir nicht. Großartige Erwartungen an Alpen-Panorama und Fernsicht auch nicht. Das führt dann dazu, dass wir auf dem Weg, der anfangs juraseitig läuft, die weiten Blicke über sanfte Jurawälder durchaus genießen. Der leichte Dunst wirkt wie ein Weichzeichner und die treibenden Nebelfetzen ignorieren wir einfach.

Schön ist der Aufstieg und ärgerlich. Es ist ja schon schlimm genug, dass es in den Bergen meist bergauf geht. Aber, dass dann in langen Anstiegen immer mal steile Abstiege kommen, die die ganzen mühsam erarbeiteten Höhenmeter wieder dahinschwinden machen, das macht mich ziemlich missmutig. Völlig frustriert bin ich, als nach einem wirklich steilen Aufstieg am Chalet groß die Zahl 1414 prangt, denn losgegangen sind wir bei 1480 m. Bevor ich jedoch zu sehr herummosere, schaut Monsieur genauer hin und kann mich beruhigen: 1414 ist nicht die Höhe des Chalets, das ist die Notrufnummer der Bergwacht, wir sind auf gut 1580 Metern Höhe. Blick hat man vom Chalet aus in Richtung Alpen auch nicht, höchsten ein schattenhaftes Ahnen, dass da hinten, in der Ferne, in den weißen Wolkenwänden vielleicht ein paar Bergmassive versteckt sind. Wir gönnen uns Nahsicht und beobachten eine junge Kuh, die mit ihrer Zunge und viel Geschick mitten aus der Silberdistel die süße Blüte herausholt. Den stachligen Blätterkranz drumherum lässt sie stehen.

Ein paar An- und Abstiege weiter kreuzen wir ein asphaltiertes Sträßchen, das sich hoch zum nächsten Crêt schwingt. Im Schatten des Waldrandes parkt ein großer Geländewagen, ein Paar steigt aus. Er breitet eine Plastikplane aus, sie nimmt eine Spitzhacke aus dem Kofferraum. „Hoffentlich verscharren die nicht die Schwiegermutter,“ flüstere ich Monsieur zu, leise, aber nicht leise genug. Der Mann schaut uns durchdringend an. „War nur ein Scherz,“ entschuldigen wir uns. „Das will ich meinen,“ sagt er und produziert eine doppelte so große Hacke aus den Tiefen des Wagens, „für die Schwiegermutter würde ich natürlich die hier nehmen.“ Da wir alle darüber lachen, ordnen wir das unter „nur Spaß gemacht“ ein.

Spaß und Freude an seiner Arbeit hat wohl auch der lokale Milchbauer. Das, was wir aus der Ferne für ein Wegkreuz oder einen seltsamen kleinen Altar gehalten hatten, entpuppt sich als Geschäftsidee. Die Ziegenkäse sind schon ausverkauft, aber Postkarten sind noch zu haben. Wenn jemand mit so viel Liebe und Begeisterung die Schönheit seiner Kühe festhält, dann hat er unsere Unterstützung verdient.

Es geht weiter über das asphaltierte Sträßchen, das irgendwie etwas deplatziert wirkt, hier zwischen den Jurawiesen. Des Rätsels Lösung kommt hinter der nächsten Kurve. „Vorsicht, Minen!“, warnt Monsieur und ich denke zuerst an Kuhfladen, bis ich sie selbst sehe. In Vierer-Reihen angeordnet, fünf Reihen tief hat die Schweiz dieses Sträßchen vermint. Wahrscheinlich für den Fall, dass französische Milchkühe einen Angriff auf die Schweiz planen. Die militärischen Bauten stehen ein paar Meter weiter. Wir sind uns nicht ganz sicher, ob wir hier auf das „Top secret“-Weltraum-Programm der Schweiz gestoßen sind, Apollo 8 ½ vielleicht. Oder ob hier jemand irgendwie irgendwas kompensieren will.

Wie auch immer, wir haben genug gesehen für heute und machen uns auf den Rückweg. „Jetzt geht es nur noch bergab,“ motiviert Monsieur seine angemüdete Wanderin. „Bis auf das fiese steile Stück kurz vorm Parkplatz.“ – „Das ist noch eine Stunde hin,“ winkt Monsieur ab, „so lange im Voraus kann ich mich nicht fürchten.“

Ich habe sie natürlich geschafft, diese letzte Steigung. Zu wissen, dass am Ziel eine Blaubeertarte auf mich wartet, war dabei eine nicht zu unterschätzende Motivationshilfe.

Frei nach Erich Kästner

 

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… leben wir heute gefährlich.

Erst erzählen wir der Jüngsten, dass sie sich schon immer gewünscht hat dahin zu fahren.

Da diverse Landesregierungen, Fluggesellschaften und ein Virus sich zusammentun, um das Erreichen ferner „Schon – immer“-Traum-Ziele zu verhindern, versuchen wir es halt mal eine Nummer kleiner mit den „Da könnten wir doch auch mal“-Zielen in der Nähe. Birgt natürlich eine gewisse Gefahr von hochgezogenen Augenbrauen, gezuckten Schultern oder einfach nur ungläubigem „Das?“ in sich.

Unser Ansatz geht aber gut aus, auch wenn das Ziel wohl nicht zu den 100 romantischsten Zielen Frankreichs zählen wird. Es hat eher diesen desolaten Charme aufgelassener Industrieanlagen.

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Wir sind zig Male auf dem Weg in den Süden über das „Viaduc de la glacière“ an dieser alten Eisfabrik vorbeigefahren, den Mont Lozère, Burgund oder die Provence vor Augen, den Satz „Da könnten wir doch auch mal …“ im Hinterkopf. Heute ist es soweit. Der strahlende Sonnenschein ist einerseits ausflugstauglich, andrerseits so gar nicht dem Ziel angepasst. Hier bräuchte man treibende Nebel oder heulenden Schneesturm, um das Potential der aufgelassenen Ruine voll auszukosten. Schön ist es trotzdem.

Wir stromern eine Stunde durch die Anlage, steigen – wo es nicht abgesperrt ist – in und um alte Mauern und stehen dann am Parkplatz da mit dem angefangenen Ausflugstag. Das nächste Ziel, die „Pertes de la Valserine“ ist uns klar, aber auf dem Weg locken die „Marmites de Géant“, die Kochtöpfe eines mythischen Riesen, Wasserstrudel in der Semine. Vor ein paar Wanderungen, von Giron kommend, hatten wir den Stopp schon einmal angedacht, aber damals hatten unsere müden Beine uns überstimmt. Heute finden wir den Einstieg und können bald das gigantische Rad einer alten Sägemühle bewundern, finden aber die Wasserspiele eher etwas unterwältigend. Das kommt dann – wir waren einfach noch nicht weit genug gegangen – nach der nächsten Brücke.

Der Parkplatz für die Pertes zeigt uns dann, frei nach Erich Kästner, wie lebensgefährlich das Leben ist. Mit großen gelben Warnschildern wird uns Wanderern drastisch vor Augen geführt, welch eine gefährliche Risikosportart wir ausüben. Was uns nicht alles befallen kann: Steine und Äste können auf uns herabstürzen. Der ebenfalls angedrohte Sturz von glaçons beeindruckt mich allerdings wenig, da ich das Wort eher mit „Eiswürfel“ statt -zapfen übersetze und das natürlich sofort in den überhaupt nicht bedrohlichen Kontext von eisgekühlten Getränken wie Aperol Spritz und ähnlichem setze.

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Wir setzen uns tapfer den weiteren Risiken von brutalen und gewalttätigen Fluten aus, den abrupten Felsabstürzen und gefährlichen Steilwänden. Es ist kaum zu glauben, dass wir lebendig an den Ufern des Flusses ankommen, gemeinsam mit den anderen Wanderern, Picknick-machern, im Wasser-Planschern. Die größte Gefahr, der wir uns aber an diesem Nachmittag wirklich aussetzen, sind die Moskitos, die unser Picknick, die Füße im Wasser, umschwirren.

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Die Valserine verschwindet hier schäumend immer mal wieder zwischen meterhohen Kalkwänden und taucht brodelnd ein paar Schritte weiter, dafür aber viel tiefer wieder auf.

Eine Felswand mit spitzer Nase ist natürlich Napoleons Kopf und die Stelle, an der die Felsen nur zwei Handbreit auseinander sind, die „natürliche Brücke“, die Pilger auf diesem alten Pfad schon vor Jahrhunderten nutzten. Für uns Risikosportler ist die Stelle inzwischen mit Geländern und Lattenrosten gesichert, nur für den Fall, dass die gelben Warnschilder nicht abschreckend genug waren.

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Ein Wanderweg an der Valserine entlang führt schon zur Planung der nächsten Wanderung. An der „Pont du Moulins des Pierres“ vorgestern hatten wir der Voie du Tram zuliebe nämlich mit einem kleinen Bedauern auf den schmalen Pfad verzichtet, der ins Tal der Valserine hinabstieg. Zu lang, zu steil, zu kompliziert mit dem ÖPNV.  Hier und jetzt eröffnet sich ein weiteres „Da könnten wir doch auch mal“.

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Mit deutlich leichterem Rucksack steigen wir durch die verwunschen, moosbewachsenen Wälder hoch zum Parkplatz. Plötzlich kommen uns zwei Polizisten entgegen, auf dem Wanderweg zur Valserine, in voller Montur. Ich bin so perplex, dass ich sie lachend frage, was sie denn da unten im Tal kontrollieren wollten. „Oh, Madame,“ strahlt der eine freudig-aufgeregt zurück, „il y a beaucoup des choses, qui sont interdit là-bas! – Es gibt Vieles, das da unten verboten ist.“

Wie gesagt, gefährlich, gefährlich, das Leben!

 

 

 

 

 

Die – vielleicht – vier Belvedere

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Gut, es könnte sein. Die Möglichkeit besteht natürlich, auch wenn ich es für wenig wahrscheinlich halte. Vielleicht waren wir wirklich zu dumm, die vier Belvedere zu finden, die diese Wanderung anpreist. Von den restlichen vier der Cinq chalets mal ganz zu schweigen. Dreieinhalb Belvedere könnte ich anbieten, das ist doch auch schon ganz nett. Wobei wir bei dem einen Aussichtspunkt einen Abzug in der B-Note geben müssen, zwar ist die Aussicht schön, aber nicht da, wo sie laut Karte sein soll.

Die Wanderung ist mit dreizehn Kilometern etwas länger als unsere „normalen“ Bergwanderungen, dafür gehen die Höhenmeter es gelassener an, ganze 300 Meter sind es, die Hälfte davon auf den ersten zwei Kilometern. Der Rest der Wanderung geht dann mehr oder weniger eben um den großen Felskessel bei Giron herum. Das ist einer der Vorteile, wenn man in einer Gegend wandert, die vom Ski Nordique lebt, dem Skilanglauf und Schneeschuhwanderungen: steile Abfahrten sind selten. Als Bonus kommt das Fehlen der im Sommer eher hässlichen und störenden Seilbahn- und Sessellift-Infrastruktur hinzu.

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Also stapfen wir erstmal bergauf, den Schildern mit den Schneeschuhen folgend, bis zu einer Wiese, die den Namen „Cinq Chalets“ trägt. Von diesen fünf Chalets steht nur noch eines, und das in einem Zustand, den französische Immobilienmakler mit „beaucoup des possibilités“ – viele Gestaltungsmöglichkeiten – umschreiben würden. Die Wiese selber bietet nicht mehr viele Möglichkeiten, die Blumenvielfalt zu bewundern, alles fein säuberlich zu Heuballen zusammengepresst.

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Am Ende der Wiese geht es in den Wald und um eine scharfe Ecke. Da ist er dann, der erste Aussichtspunkt. Zumindest auf der Karte, in der Realität stehen wir vor 15 Meter hohen Tannen. Da scheint mir schon länger keiner mehr die Aussicht bepunktet zu haben. Macht nichts, ein paar hundert Meter weiter bietet eine Wiese einen schönen Ausblick auf Juraketten und Felsabbrüche. Der erste „richtige“ Ausblick kommt dann auf einer großen Wiese mit dem prosaischen Namen „L’Achat“. Ein weiter Felskessel schwingt sich im Halbkreis und bietet wirklich viel Schönes für Auge. Leider ist der Soundtrack etwas störend. Drei Gemeindearbeiter sind dabei die Wanderwege frei zu sensen. An und für sich löblich, da sie aber mit Motorsensen arbeiten, die wie ausgesprochen schlecht gelaunte Hornissen klingen, eher nicht so der stillen Meditation der Naturschönheiten zuträglich.

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Wir laufen weiter und biegen bald von den Wiesenwegen in den Wald ab. Bis hierhin waren die Wege breite Holztransport- oder Feldwege, gut fürs Tempo. Im Wald haben wir dann diese weichfedernden Pfade unter den Füßen, die einfach ein Genuss sind. Der Pfad führt uns zu einer „Ferme“ und von dort sind es nur ausgewiesene fünf Minuten zum nächsten Panorama. Das ist zwar da, wo es sein soll, aber verlangt schon ein sehr selektives Schauen auf die Berghöhen um uns herum. Die große Industrieanlage im Tal ist einfach nur hässlich. Monsieur hebt fragend eine Augenbraue und ich schüttele den Kopf. Das war der Platz, den wir – auf der Karte – fürs Mittagessen ausgesucht haben. Da laufen wir doch lieber zu der sehr französisch zusammenrestaurierten Ferme zurück mit ihrem Drachenzahn- (oder Panzersperren?)-Wall.

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Nach einer langen Picknickpause führt der Weg uns aus den Lichtungen wieder tief in den Wald. Wir sind dankbar für Sonnenschein und Blumen. Die Messlatte zur Schneehöhe macht uns doch etwas Angst. Anscheinend werden Schneemengen unter 1,30 Höhe nicht für des Messens wert befunden.

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Der Waldweg stößt auf eine kleine Landstraße, auf der, dramatisch hingeworfen, ein Mountainbike liegt, daneben sitzt ein kleiner Junge. Wir fragen ihn natürlich sofort, ob es ihm gut gehe – Ja!, ob er ganz allein sein – Nein!, ob er gestürzt sei. Da packt er seinen ganzen Stolz zusammen: „Madame, ich stürze doch nicht mehr!“ Kurz darauf kommen uns auf der Straße seine Eltern auf Rädern entgegen. Ob wir einen kleinen Jungen gesehen hätten, wollen sie im hektisch-besorgten Vorbeibrausen wissen und sind schon durch, bevor unser Ja! kommt.

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Das kurze Stück auf der Straße führt uns zum Aufstieg zu la Roche fauconniere, dem Falken-Felsen. Der Weg ist wieder wunderschön und endet tatsächlich an einem Aussichtspunkt. Und welch eine Aussicht! Zum Beispiel auf die „Achat-Wiese“ gegenüber vom Anfang der Wanderung. Dass es am Falkenfelsen keine Falken gibt, darüber will ich jetzt mal nichts sagen. Nicht dass ihr noch denkt, ich wäre eine kleinliche Nörglerin.

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Ein kurzes Stück Asphalt und zwei Kilometer Waldweg bringen uns zum Parkplatz. Ein paar Schritte vor dem Auto piepst mein Fitbit, dass wir nun 13 Kilometer und 4:30 Stunden unterwegs seien. Da dreht sich Monsieur um und grinst: „Das wundert sich sicher, wem du es heute Morgen ausgeliehen hast.“

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Preisleistungsverhältnis

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Das stand so in der Beschreibung der Wanderung: Bon rapport: montée-panorama.

Ich sehe da sofort vor mir den gewieften Gebrauchtbergehändler, der erst den Kopf schüttelt und sich dann die Hände reibt: „Nein, nein, bei den Höhenmetern, da kann ich Ihnen leider nicht entgegenkommen, da gibt es keinen Rabatt. Aber betrachten Sie doch mal das Preisleistungsverhältnis von Aufstieg zu Aussicht. Phantastisch, oder?“

Wir kaufen ihm das ab für den Crêt de Chalam. Die letzte Wanderung für den Kurzurlaub unseres Ältesten führt in den Jura. Wobei der Crêt de Chalam mit seinen 1545m deutlich mehr Höhenmeter in die Waagschale werfen kann als die Alpenwanderung mit ihren 1100 Metern Höhe.

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In der Beschreibung standen auch wieder die Warnungen, dass der Aufstieg zwar eher gemütlich sein, die Route für den Abstieg aber „raide et rude“, steil und rüde sei. Was mich dazu bringt, den Crêt de Chalam von hinten auf zu rollen. Wir nehmen das steile Stück zum Aufstieg und gönnen den Knien den sanfteren Abstieg. Das ändert natürlich nichts an den Höhenmetern, siehe oben, rauf ist rauf. Dass der Weg nicht als Wanderweg markiert ist (balisage manquant, mais chemin logique) führt zu kurzem Zögern am Anfang. Rechts geht der breite, „offizielle“ Weg zum Crêt de Chalam, links steht „terrain privé“, allerdings mit einer Zaun-Schleuse für Wanderer. Wir nehmen das als Eintrittskarte und folgen dem „logischen“ Weg, der erstmal nur eine ausgefahrene Traktorspur ist, die dann in sumpfigen Wiesen zum Trampelpfad wird. Ist nicht so ganz klar, ob das wirklich ein Wanderweg ist, oder ob hier die Kühe gemütlich nach Hause schlendern. Schließlich überquert der Pfad ein Bächlein und wird dann so steil und felsig, dass keine vernünftige Kuh den nehmen würde, als doch Wanderweg.

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Wir steigen durch den Wald nach oben, wohl wissend, dass der Crêt de Chalam wie ein Zuckerhut aus dem Wald herausragt. D.h. das „richtig“ steile Stück kommt erst noch. Dafür arbeitet der Weg durchaus erfolgreich am Preisleistungsverhältnis. Immer mal wieder gibt es Lichtungen, die uns den Blick auf die Almen im Tal erlauben und die gegenüberliegende erste Jurakette. Links die Spitzen von Reculet und Colomby de Gex, rechts die schroffen Felsabbrüche des Cirque des Avalanches. Und über dem Gipfelgrat schwebt, wie ein Sahnehäubchen auf dem Eiskaffee, der Mont Blanc.

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Durchaus beeindruckend! Genauso schön, aber viel näher, ist die Pracht der Jurawiesen. Wir streifen durch hüfthohes Doldenmeer, von weiß bis dunkelrosa. Dazwischen die tiefvioletten Spitzen irgendeines Lattichs. Die dunklen Kugeln der Alpendisteln wissen wohl nicht, dass sie im falschen Bergmassiv sind. Wilde Rosen häkeln sich am Waldrand in die Bäume. Der gelbe Enzian protzt und dominiert wie ein prolliger Halbstarker, kann aber nicht von der filigranen Schönheit der Türkenbünde ablenken. Und dazwischen, eher unauffällig und unscheinbar-harmlos, genug gelber Eisenhut, um eine mittlere Kleinstadt zu vergiften.

Am Col d’Encoche kommen wir aus dem Wald und sehen den kurzen, steilen Auftieg vor uns. Raide et rude, ja, aber kein Problem. Es stellt sich heraus, dass das nur eine Mogelpackung ist, ein kleiner Appetitanreger. Als wir uns auf den vermeintlichen Gipfel hochgearbeitet haben, sehen wir, dass der eigentliche Aufstieg noch vor uns liegt. Der ist dann wirklich so, dass ich heilfroh bin, ihn „nur“ bergauf klettern und krabbeln zu müssen. Zum Glück wird es ein paar Höhenmeter vor dem Gipfel wieder etwas flacher, so dass ich aufrechten Ganges zu der Bank schreiten kann, die dort steht. Mit einem wohligen Seufzer lasse ich mich auf die Sitzfläche fallen. Im selben Augenblick landet eine kleine pelzige Biene auf meinem Arm. Wir haben sofort eine tiefe innere Beziehung, sie sieht nämlich genauso erschöpft aus wie ich. Meine kleine flauschige Freundin bleibt dann auch die ganze kurze Wasser-und-ein-Apfel-Pause über bei mir, lässt sich sogar noch ein paar hundert Meter bergab tragen, bevor sie sich fit genug fühlt, wieder ihren eigenen Weg zu gehen.

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Unser Weg geht über in Holz gefasste Stufen angenehm einfach den Berg hinunter. Knapp zwei Stunden nach Beginn stehen wir wieder auf dem Wanderparkplatz und packen die Brote aus. Die Croissants hatten wir schon am Auto vor der Wanderung gegessen, wieder etwas, das nicht den Berg hoch getragen werden muss.

Bis dahin war die Wanderung sehr schön, allerdings ziemlich kurz, was das PreisleistungsVerhältnis von Autofahrt zu Wanderung doch arg in Schieflage bringt. Zuhause hatte ich schon eine weitere Schleife ausgesucht, über den Crêt au Merle, sozusagen zwei Crêts zum Preis von einem. Der Weg, der hochführt, ist ein breiter geschotterter Holzabfuhrweg, von dem es aber kurz drauf links ab und steil bergauf geht. Die Wiesenpracht ist hier etwas eingedämmt durch die Jungrinder, die getreu dem Spruch: Eine Kuh macht vorne Muh und hinten Mist, die Blumenpracht in dunkelbraune Fladen verwandelt haben. Wir stapfen unter Vermeidung dieser Tretminen hoch zum Gipfel, wo wir nicht nur über das Panorama (Tolles Preisleistungsverhältnis!) staunen.

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In der Beschreibung stand nämlich, man solle eine Sichtline zur im Tal liegende Ferme de Malatrait herstellen und auf dieser Linie – ohne Weg – absteigen. Das klingt schon recht gewagt, wird aber geradezu abenteuerlich durch die Tatsache, dass wir nur eine schwarze Wand von Nadelwald sehen, kein Bauernhof, kein Tal, keinen Weg im Tal. Dafür läuft vom Gipfel aus eine Bruchsteinmauer den Grat entlang und daneben – kaum erkennbar – eine Fußspur durchs taunasse Gras.

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Monsieurs Lebensgefährtin meint zwar, die in Open Street Map genau da eingezeichnete Linie sei die Grenze zwischen den Departements Jura und Ain, aber wir sehen dort einen Pfad, um auf dem Höhenrücken ans Ende des Tals zu kommen, ohne das Risiko zu laufen, vor Felsabbrüchen zu stehen. Nicht dass ich Angst hätte da hinunter zu fallen, so schnell laufe ich nicht, dass ich nicht jederzeit abbremsen kann. Nein, ich fürchte mich mehr vor der inhärenten Schlussfolgerung: hier geht es nicht weiter bergab, wir müssen wieder zurück – bergauf.

Der Pfad wird immer verwunschener. Unser Ältester, 2,05m groß, geht als Pfadfinder voraus und meldet seine Erkundigungen. „Hüfthohes Brombeergestrüpp voraus!“ – „Das heißt für uns dann: brusthoch,“ murmelt seine Schwester trocken. Die Brombeeren entpuppen sich als harmlose Himbeeren, was vom ihm schulterzuckend mit „Halt eben so grüne Blätter mit Beeren dran“ kommentiert wird.

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Wir steigen mit dem Pfad über Trockensteinmauern und stehen vor einer Lichtung mit einem zerfallenen Bauernhaus. Ein Feldweg kreuzt, nach rechts, sagt Open Street Map, führt er recht schnell zu dem Holzabfuhrweg und dem Wanderparkplatz, links im weiten Bogen in das Tal, an dem die Ferme de Malatrait liegt.

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Wir entscheiden uns gegen Schotter- und für Waldwege und sehen wenig später den breiten Wanderweg, der an der Ferme vorbei zur Straße führt. Die Großen ziehen das Tempo ein bisschen an. Sie wollen mir das letzte Stück Straße zum Parkplatz ersparen. Sehr weit müssen sie mit dem Auto nicht fahren. Als wir vom Wanderweg auf die Straße kommen, steht mein Auto genau gegenüber – auf dem Parkplatz des „Refuge Le Berbois“. Da bekommt man nach einer langen Wanderung nicht nur Getränke, sondern auch Crêpes mit hausgemachter Rhabarbermarmelade.

Für 2,50 Euro. Tolles Preisleistungsverhältnis!

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Für die Latte-Macchiato-Wanderer I

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Creux de Van

Vor Jahren schicke ich einer Freundin Fotos einer Bergwanderung. Sie schreibt zurück, dass sie die Wanderung nachgewandert sei, mit einer Tasse Latte macchiato gemütlich vor dem Computerbildschirm.

Also, ihr Latte-Macchiato-Wanderer:

Das Wetter ist so toll, lasst uns – virtuell, versteht sich – in die Berge fahren.

Nicht die ganz hohen, die Alpen, wir bleiben im  Mittelfeld, im Jura.w02

 

Für eine erste Wanderung im Jahr sind 12 km und 700 Höhenmeter (zusammengezählt, nicht schnurstracks den Berg hoch) auch genug.

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Von der Ferme Robert aus geht es erst auf breiten Wegen gemächlich der steilen Felswand entgegen.

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Die Wege werden bald schmaler, die Wand kommt näher.

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Irgendwann sind wir oben, was die jungen Gämsen überhaupt nicht beeindruckt.

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Erste Frühlingsblumen zieren die Wiesen, in den Senken, hinter den Bruchsteinmauern hält sich noch hier und da Schnee.

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Der Weg führt um den beeindruckenden Felskessel herum und mündet dann in den „Sentier des Quatorze contours“, den Weg der 14 Kurven.

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Er lügt nicht, der Weg.

Zum Schluss gibt es in der Ferme einen tollen Flammekuchen als Belohnung.

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Kistchen fahren? Da hab ich Angst so gerne

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… sagte unsere damals dreijährige Jüngste beim Seilbahn fahren immer.

Und ich, gestern, beim Wandern, oh Mann, da hatte  ich Angst so gerne. Und wie!

Geplant war das natürlich ganz anders. Geplant war eine Herbstwanderung mit unseren Töchtern, nicht zu weit, nicht zu steil, mit schöner Aussicht, zweimal, einmal auf die Berge und einmal auf einen Genussfaktor am Schluss.

Ausgesucht hatte ich eine Wanderung von der Station de Jaman der MOB, der Montreux-Berner Oberland-Bahn, bis hoch auf die Rochers de Naye.

Weil wir nicht von Montreux aus fahren wollen, geht es per Auto nach Caux. Das beschert uns eine äußerst hübsche, aber sehr kurvenreiche Fahrt durch Montreux, vorbei an Glion, vor dessen weltberühmter Hotelfachschule junge Menschen in schicken Schuluniformen eine Pause im Sonnenschein genießen. Kurz vor Caux bremst uns ein Traktor aus, in Caux eine Baustelle: rechts steht ein Bogen eines Eisenbahnviadukts, links steht ein Bogen eines Eisenbahnviadukts, dazwischen viel Nichts. Erste Zweifel keimen auf. Vor dem Bahnhof wechseln wir in die Bergschuhe und lösen unser Ticket. Der Automat im Bahnhof hat nichts von der Werbeaktion unserer Hausbank gehört und verlangt den vollen Preis.

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Dann haben wir viel Zeit darüber zu sinnieren, dass die Schweizer Pünktlichkeit auch nicht mehr das ist, was sie mal war. Die angeschriebene Ankunftszeit ist um eine Viertelstunde überschritten und wir machen uns langsam mit dem Gedanken vertraut, dass aufgrund des fehlenden Viadukts vielleicht gar kein Zug fährt, da trudelt von oben ein Triebwagen ein, hält, öffnet die Türen. Ich will einsteigen, da steigt der Zugführer aus, sagt „Attendez, madame!“, schließt den Zug ab und verschwindet „für kleine Zugführer“ oder so. Nun für manche Sachen muss man einfach Verständnis haben. Dass er dann allerdings in aller Muße mit seinem Kollegen plaudert, den Zug noch dreimal ein, zwei Meter hin- und herrangiert, bevor wir einsteigen dürfen, finde ich schon seltsam. Wir sind – bis auf einen weiteren Gast – völlig allein im Wagen und freuen uns auf eine ruhige Fahrt. Das ändert sich in dem Moment, in dem zwei Ersatzbusse der MOB auf den Bahnhofsplatz fahren und ihre Ladung berggestählter Schweizer Rentner ausspucken. Da ist es dann aus mit der Ruhe. Andrerseits fühlen wir uns plötzlich ungeheuer jung.

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An der Station de Jaman steigen wir aus, vor uns ein Hang im Sonnenschein, den es erst hinunter und dann auf der anderen Seite, im Schatten, wieder hochgeht. Der Raureif ist zwar bildhübsch anzusehen, besonders die Kristalle, die der Wind über den Felsgrat bläst, aber unten bei uns im Tal ist das Ganze doch ein bisschen ungemütlich. Der Col de Bonaudon (1755 m) ist schnell erreicht und da wartet dann eine Überraschung auf uns.

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Sehr deutlich zu erkennen sind die Leiterpassagen, mit deren Hilfe man die gegenüberliegende Felswand erklimmen soll. Nun sind Leitern an sich ja irgendwie positiv. Jemand hat sich Gedanken gemacht, dass eine Passage für den normalen Sonntagswanderer zu schwierig sein könnte und Abhilfe geschaffen. Gut, irgendwann kommt bei mir immer der Moment, in dem mir nur allzu klar wird, dass da nur sehr wenig Metall zwischen mir und sehr viel Nichts ist. Da hilft meist ganz langsam atmen, nur auf die Hände schauen und sehr konzentriert die Schritte zählen. Seilpassagen finde ich da viel schlimmer. Die gibt es in der Wand auch, sie sind aber – zum Glück – aus unserer Entfernung nicht zu erkennen. Sonst wäre das der Punkt gewesen, an dem ich zur Station umgekehrt wäre und den Rest mit dem Zug gemacht hätte. So sprechen wir uns gegenseitig Mut zu und klettern über das Geröllfeld zum Fuß der Wand. Ich glaube, es hat nicht länger als eine halbe Stunde gedauert, bis wir über die Leiter- und Seilpassagen auf dem Berggrat ankommen – aber was habe ich in dieser Zeit abwechselnd geflucht, gezittert und geschimpft. Die Mädels sind natürlich vor mir oben und berichten ganz begeistert von der traumhaften Aussicht. Von mir kommt nur ein gestresstes: „Die Aussicht ist mir so was von egal, wie sieht der Weg aus?“

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Gut sieht er aus, der Weg: er verläuft auf dem Hochplateau durch Almwiesen und die Aussicht ist wirklich phantastisch. Eiger, Jungfrau und Mönch grüßen links, les Diablerets rechts, die Berge eine Sinfonie in Blau- und Weißtönen.

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Über die Wiesen geht es dann ganz entspannt hoch zum Bahnhof und Restaurant auf den Rochers de Naye. Das „Plein Roc“ ist wirklich völlig in den Felsen gebaut, die Fassade ein riesiges Panoramafenster auf den Genfer See. Allerdings macht es doch schon einen sehr in die Jahre gekommenen Eindruck und die Bedienung ist ausgesprochen unfreundlich. Wir lassen uns aber nicht von der Aussicht auf den See und unser wohlverdientes Roesti ablenken.

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Um Viertel nach fährt jede Stunde der Zug talabwärts – laut Fahrplan, theoretisch, so steht es zumindest auf einem DIN A 4 Zettel. Und dann steht da noch, dass man Platzkarten braucht, da aufgrund der Bauarbeiten das Platzangebot beschränkt sei. Allerdings ist nirgendwo auf dem Bergbahnhof ein Schalter, wo man diese Karten erhalten kann. Ein Fahrkarten-Automat, ja, aber sonst nichts. Wir fragen ein bisschen herum und erfahren, dass man diese Platzkarten in Montreux hätte ziehen müssen. Noch etwas, dass der Bahnhof in Caux offensichtlich nicht wusste.

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Während wir auf den Zug warten, passiert so etwas wie ein menschliches Lemming Phänomen: in dem Moment, in dem der Zug einfährt, stürzen sich von überallher Menschen auf den Quai und drängen in die zwei Triebwagen. Wir haben zwar nur Fahr- und keine Platzkarten, aber wir können hervorragend so gucken, als hätten wir welche. Im Zweifelsfall hätten wir die 20 Minuten einfach gestanden. So wie unsere Große und ein kleiner Junge es tun: in der Kabine direkt hinter dem Fahrer. Für den Kleinen sicher der Höhepunkt des Tages.

Letztendlich finden aber alle, die einen Sitzplatz wollen, auch einen und der Zug ruckelt mit sagenhaften 15 km/h ins Tal. In Caux strömen die Fahrgäste zu den bereitstehenden Ersatzbussen, während wir uns auf die Heimfahrt machen. Wir stürzen uns wieder in das Gewühl der Montreux-Gässchen. Just in dem Moment, in dem wir fast sicher sind, da nie wieder herauszufinden, taucht das Autobahnschild auf und danach ist es einfach.

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Ich finde es im Prinzip ja ganz gut, wenn man ab und an Dinge tut, die einem eigentlich Angst einjagen. Aber ganz so geballt hätte es dann doch nicht sein müssen. Und eines ist klar: ich werde mich nie wieder über bayrische Wanderweg-Autobahnen lustig machen!

Sag mir, wo die Blumen sind (Les Pléiades, 1365 m)

Oder: Wandern ist, wenn man trotzdem lacht…

pleiades3Gut, wir waren vielleicht auch einfach zu optimistisch. Die eine Wanderseite schlug für diese Wanderung Mitte Mai bis Mitte Juni vor, die andere Mitte April bis Mitte Mai. Dann sollten sich die Almwiesen der „Pléiades“ mit Tausenden und Abertausenden von weiß blühenden Narzissen schmücken. Da wir aber schon wussten, dass wir im Mai keine Zeit haben werden, haben wir eben der anderen geglaubt.

Sonntag war außerdem der einzige Tag mit einer einigermaßen guten Wettervorhersage vor der angekündigten Kaltfront. Während des Frühstücks schien die Sonne, während des Zusammensuchens von Schuhen, Mützen, Schals wurde es dunkler und erste Tropfen fielen, Ich machte sehr klar, dass ich keinesfalls vorhatte 2 ½ Stunden durch Regen zu laufen. Monsieur sagte, er werde sich darum kümmern. Es ist bei uns nämlich so, dass ich mich um die schöne Landschaft kümmere und Monsieur für das Wetter zuständig ist.

Unser Ziel, die Narzissenwiesen Les Pléiades, liegt oberhalb von Vevey, eine gute Stunde Autofahrt. Los ging’s.

pleiades2Wir haben Freunde, die reisen immer mit einer „Veschper“, meist Beaufort-Käse und Salami. Ganz wichtig auch die Schokolade, die meist schon kurz hinter der Autobahnauffahrt aufgemacht wird. Bei uns war das etwas anders gestern. Monsieur will seinen Sitz zurückschieben, greift nach unten und hat eine Aubergine in der Hand. Rund, prall, violett – und ich erinnere mich Ende der Woche Auberginen gekauft zu haben. Der kleine Ausreißer wird auf die Mittelkonsole platziert, wo er uns ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Egal, wie schlecht das Wetter wird, egal, welche Straßenverhältnisse uns erwarten, wir haben etwas zu essen dabei. Eingeschneit in einem Schweizer Bergtal werden wir überleben, dank dieser Aubergine.

Hinter Lausanne fahren wir auf der Freiburger Autobahn steil bergauf, dann wechseln wir auf kleine und immer kleinere Landstraße. Einspurig geht es durch einen dunklen Wald, der atavistische Gefühle weckt. Ich schaue nicht in den Rückspiegel, ich will gar nicht wissen, ob der Wald sich hinter uns schließt.

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Orientierung ist einfach in der Schweiz. Die Wege sind alle beschildert…

Monsieur hat derweil am Wetter gearbeitet, der Regen geht in Schnee über. Wandern im Schnee ist schließlich etwas ganz anderes. Vom Wanderparkplatz Tenasses steigen wir steil auf, umtanzt von Schneeflocken. Der eisige Wind sorgt dafür, dass es nicht zu weihnachtlich-gemütlich wird, die dunkel treibenden Wolken dafür, dass man keine Fernsicht hat. Gut, wir erkennen die Bergstation der Golden Pass Linie, aber mit der Sicht auf Genfer See und Alpen ist nix.  Danach geht es im lockeren Wechsel bergauf und bergab durch die Narzissenwiesen. Da sind sie schon, die Narzissen, etwa fünf Zentimeter schauen die Blätter  aus der Erde heraus, aber sie haben noch nicht mal Knospen. Aber eine gute Stunde später bietet das La Cha einen sehr schönen Ausblick: Wärme, etwas zu essen (die Aubergine hatten wir dummerweise im Auto liegen lassen. Außerdem ist das Picknickpotential einer rohen Aubergine nicht so hoch). Der Wirt kocht weitgehend mit dem, was er vor Ort hat und findet. Und der Anblick des großen Tellers Löwenzahnsalat mit Speckwürfeln, das nenne ich mal „schöne Aussichten“.

Während wir aßen, wurde das Schneegestöber immer dichter, so dass wir uns nur eine kurze Aufwärmpause leisteten. Danach ging es quasi nur noch bergab, umtanzt von Schneeflocken. Irgendwie bekam ich Lust auf Weihnachtslieder und Plätzchenduft. Letzter Punkt der Wanderung war ein Hochmoor, in dem es – angeblich? Bei besserem Wetter? Jedenfalls heute nicht – fleischfressende Pflanzen geben soll. Was es in Hülle und Fülle gab, war Wasser. Wiese, Moor, Wege, alles stand unter Wasser. Kennt ihr dieses Geräusch, wenn bei jedem Schritt das Wasser aus den Schuhen quatscht? Faszinierend, gell?

pleiades4Wandern ist, wenn man trotzdem lacht…

Auch darüber, dass der Holzsteg erst kommt, wenn die Schuhe durchnässt sind.

Wir setzen uns ins Auto, es hört auf zu schneien. Wir fahren los in Richtung Vevey, der Himmel reißt auf und die Sonne kommt heraus.

Ich denke, da muss Monsieur noch ein bisschen üben…

Motivation, intrinsische, die (Plateau de Retord)

retord2Braucht man sonntagmorgens um sieben, um dem inneren Schweinehund einen Maulkorb zu verpassen.

Der schaut erst nur fassungslos und nölt: „Das kann doch nicht dein Ernst sein, oder?“, verlegt sich dann auf’s Argumentieren: „Deine blöde Berge sind in einer Stunde bestimmt auch noch da! Hast du überhaupt schon gesehen, wie kalt und dunkel es da draußen ist?“, und schließlich auf’s Betteln: „Okay, dreißig Minuten, ja? Eine klitzekleine Viertelstunde, bitte? Zehn Minuten? Fünf?“ Gut, fünf Minuten bekam er dann.

retord3Die extrinsische Motivation kommt dann in Gestalt der noch etwas verschlafen wirkenden Küchenhilfe, die uns im Le Cathray um 9:20 sagt, dass das mit der Tischreservierung kein Problem sei, aber man nach 13 Uhr nicht mehr Essen bestellen dürfte. Die geplante Wanderung aber war im Internet mit 4 Stunden angegeben. Wenige Minuten später stehen wir auf dem Wanderparkplatz, mein sehr kommunikatives Auto meint mir mitteilen zu müssen, dass die Außentemperatur unter 3° gefallen sei und wir somit mit Glatteis rechnen müssten. Der innere Schweinehund hebt nur eine Augenbraue und grinst sich eins ab.

retord5Der breite Waldweg liegt noch im Schatten der hohen Bäume, so dass das mit dem schneller Laufen schon aus wärmetechnischen Gründen eine gute Idee ist. Im Hinterkopf haben wir die Möglichkeit, die 14 km Schleife auf eine 10 km Schleife abzukürzen, wenn wir nicht mehr rechtzeitig zum Apéro im Restaurant sein können. Und dann stehen wir nach 15 Minuten vor einem Wegweiser, der zum Wanderparkplatz zeigt: Le Raymond 30 min. Ich glaube, unser Apéro ist gesichert.

Bald öffnet sich der Wald unretord1d wir laufen durch sanft gewellte Wiesen, vorbei an Buchen wie aus einem Märchenbuch. Keine großen schlanken Stämme wie aus deutschen Hochwäldern, nein, hier stehen Gruppen von Bäumen zusammen, wie Schüler auf dem Pausenhof, alte Männer auf dem Dorfplatz, Freunde beim Diskutieren. Fast glaubt man im Rascheln der Blätter im Wind ihre Stimmen zu hören. Und dazwischen hin und wieder eine breit hingeduckte Ferme. Bei einem dieser Bauernhöfe geht die Abkürzungsschleife rechts ab, die Wegweiser sind nicht wirklich hilfreich, aber wir hatten uns da eh schon entschieden, den ganzen Weg zu laufen. Noch ein Stück geht es weiter auf der „Schnellstraße für Wanderer“, dann verlässt unsere Schleife den Fernwanderweg und wir kommen ins Auenland. Rasenpfade führen zu Baumgruppen, durch raschelndes Buchenlaub steigen wir an Fels- und Wurzelformationen vorbei, die sicher jeden Hobbit locken würde.retord4

Die Ferme de Retord ist im Sommer und während der Skisaison bewirtschaftet, heute müssen wir uns mit einem Apfel aus dem Rucksack begnügen. Wir sind so gut in der Zeit, dass wir übermütig werden. Statt die vorgegebene Strecke bis zur Straße und auf dieser dann ein paar Minuten zu unserem Parkplatz zu laufen, entscheiden wir uns für einen kleinen Pfad, der nach rechts bis kurz vor den Parkplatz führt. Zumindest existiert dieser Weg auf der Karte. In der Realität auch, auf den ersten 500 Metern. Dann stehen wir auf einer Lichtung, auf dieser Lichtung eine „cabane“, eine kleine Hütte, grün gestrichen und mit der Hausnummer 4. Am anderen Ende der Lichtung, da wo der Weg weitergehen soll, gibt es im Zaun immerhin noch diese Zickzack-Lösung, durch die sich zwar Wanderer, nicht jedoch Kühe hindurchzwängen können.retord6 Dann steht da noch ein einsamer Stuhl auf der Wiese – und das war es dann. Genau diesen Moment sucht sich Monsieurs Lebensgefährtin aus für eine ihre Krisen, kein Satellitenempfang fürs GPS, das uns wenigstens grob die Richtung hätte angeben können. Irgendwann finden wir eine Spur im nassen Laub und folgen ihr bis zu einem Hochsitz. Danach verlassen wir uns auf unser Glück: irgendwo da drüben, in etwa dieser Richtung müsste unser Auto stehen, wie schwer wird das sein? Monsieur sinniert darüber nach, wie weise oder eben nicht es sei, in der Jagdsaison fernab von Wegen einfach durchs Unterholz zu preschen, aber ich vertraue darauf, dass die Jäger inzwischen alle beim Apéro sitzen. Plötzlich stehen wir vor einem Elefantenfriedhof. Nein, Tannenfriedhof natürlich, aber das andere war mein erster Gedanke. Eine große Lichtung, bedeckt mit ausgebleichten Ästen und Zweigen, dazwischen die Stümpfe der gefällten Baumriesen. Wir steigen durchs vermodernde Geäst, bis wir die halb zugewachsenen Spuren der schweren Maschinen finden, die die Stämme auf den Fahrweg gezogen haben. Und keine drei Minuten später sind wir am Auto.

Unser kleines Waldabenteuer hat die Durchschnittsgeschwindigkeit zwar arg gesenkt, trotzdem sind wir kurz nach zwölf im Restaurant. Auf einer Schiefertafel wird uns das Tagesmenü vorgeschlagen: retord7 copyLinsensalat mit geräucherter Entenbrust, Kalbsfilet mit Pilzen und eine pochierte Birne in heißer Schokolade,

Als Apéro gibt es einen Kir.

Ich finde, das hatten wir uns verdient!