Überraschung

Als Monsieur sein Handy wieder einschalten darf, erhält er als erste Nachricht eine Unwetterwarnung für Neapel.  „Überraschung!“, kann ich nur sagen, schließlich haben wir sie, bzw. ihre Auswirkung in der letzten halben Stunde durchfliegen dürfen. Die Ausläufer prasseln noch gegen die großen Fensterscheiben des Flughafens.

Unser Taxifahrer bringt uns in das Gassengewirr der Altstadt von Neapel, wo er an einer Kreuzung zu unserer Überraschung stehen bleibt und die Hände in die Luft streckt. „Zona pedonale“, meint er und schiebt dann die Hände eng zusammen. „Impossibile!“ Also stehen wir kurz darauf, zwar versorgt mit einer Menge „a sinistra“ und „a destra“, im sprichwörtlichen Regen. Dass Monsieurs Lebensgefährtin in den hohen engen Straßen sich nicht orientieren kann, ist nicht wirklich überraschend, dass mein eher analoger Ansatz mit „Scusi, signore…“ uns immerhin in die richtige Straße bringt, schon eher.

Straße hätten wir, also befragen wir zwei alte Damen zum Namen des Appartiemento-Hotels. Beide haben den noch nie gehört. Sie stehen Schutz suchend unter den hohen mächtigen Torbögen eines alten Stadtpalazzos. Genau so etwas hatte ich mir ausgesucht im Internet: mitten in der Altstadt, außen alte, verblasste Grandezza, innen kühle italienische Eleganz. Klang gut im Internet, wenn es denn nur zu finden wäre.

Wir laufen zweimal an der Hausnummer vorbei, bis wir tatsächlich an der angegebenen Nummer unter einem Dutzend anderer Klingelknöpfe auch unsere „Palazzo“ Adresse finden. Weitere 10 Minuten vergehen mit Klingeln und Telefonieren, dann öffnen sich die sicherlich fünf Meter hohen Torflügel wie von Geisterhand und wir dürfen in den Hof.

Wo die letzte Überraschung auf uns wartet: das Appartiemento liegt im 2. Stock, die hier sechs Meter Deckenhöhe haben. Und natürlich heißt es: „Old house, signora, no lift.“ Das sind dann 52 ausgetretene Stufen bis zur Tür und weitere 14 Stufen bis zur Mezzanine, die in luftigen drei Metern Höhe Bad und Bett trägt.

Dass wir danach als Stärkung erstmal eine Pizza brauchen kommt nicht wirklich als Überraschung, oder?

… und hoffentlich nicht …

Der Herr Geheimrat Goethe ist ja ganz nett herumgekommen in der Welt, wenn man all die Plaketten mit „Hier hat Goethe am … übernachtet“ bedenkt.

Allerdings hat uns ein Stadtführer mal erklärt, dass da eigentlich draufstehen müsste: „Auch hier hat sich der Herr Geheimrat Goethe unter Hinweis auf seinen VIP-Status mal wieder ein Bett und eine warme Mahlzeit erschnorrt.“ Das passt natürlich nicht auf so eine kleine Plakette.

Wir reisen also ins Land, wo die Zitronen blühen, in eine Stadt, der der Herr Geheimrat wahrscheinlich keinen Gefallen getan hat mit seinem Slogan „Vedi Napoli e poi muori“.

 „Vedi Napoli e poi muori – Neapel sehen und sterben“ – fand ich schon immer seltsam als Werbung für einen Städtetrip, nicht wirklich ermutigend, irgendwie kontraproduktiv.

Inzwischen habe ich gelesen – im Internet, nicht bei Goethe -, dass es in der Nähe von Neapel ein sehr hübsches Dörfchen namens Muori gegeben haben soll. Dass man also dem Herrn Geheimrat geraten habe, Neapel zu besuchen – „e poi Muori“ – und dann Muori. Aber dem Herrn Geheimrat war wohl mehr nach Drama zumute.

Keine Ahnung, ob das stimmt, wir trauen uns auf jeden Fall mal nach Neapel.

Neapel sehen und hoffentlich nicht…

Sonntagabend geht es los.

Und jetzt ratet mal, ab wann Regen vorher gesagt ist für Neapel…

Genau!

Hügelinchen

Bahrom erwartete uns auf der tadschikischen Seite der Grenze, unser Führer für die Tage in Tadschikistan. Es ist also Bahrom, den ich frage, wie sie die Berge im Hintergrund nennen. Es ist Bahrom, der darauf grinsend antwortet: „Diese Berge nennen wir Hügel.“ Denn in Tadschikistan gilt alles unter 3000 Metern Höhe nicht als Berg.


Würde mich mal interessieren, was Bahrom zu unseren deutschen Mittelgebirgen sagen würde. Die Eifel ein Gebirgelchen, der Hunsrück ein Hügelinchen?


In dieses Hunsrück-Hügelinchengewirr tief eingeschnitten sind Täler, die so viel mehr zu bieten haben als schroffe, kahle Berggipfel.


Wir haben uns die Ehrbachklamm ausgesucht. Als Rundwanderung, weshalb sie zur Ehrbachklamm-Traumschleife wird. Über die Traumsteige und -schleifen habe ich schon genug gelästert, aber hier ist der Zusatz Traum wirklich verdient.

Wenn man denn schwindelfrei ist und keine Höhenangst hat, sonst wird es schnell zum Alptraum.


Unsere Traumwanderung beginnt auf den Hunsrückhöhen inmitten von blühenden Ackerstreifen. Zwischen die Monokulturen von Mais und Rüben hingetupfte bunte Pinselstriche erfreuen das Auge und die Insekten: Ringelblume, Borretsch, Phacelis, klar, auch eine Menge Disteln und Habichtskraut. Solange das nicht in meinen Beeten blüht, finde ich es ganz hübsch.


Am Anfang der Schleife stehen viele Hinweisschilder, zur Streckenführung, zum Wert der Schleife, des Wanderns allgemein und ganz klein unten drunter das Höhenprofil. An einem Punkt, etwa zur Hälfte der Wegführung, muss es einen Aufzug geben. Anders ist es nicht zu erklären, dass die Linie (fast) senkrecht nach oben geht. Nunja, davor fürchte ich mich, wenn wir da sind.


Zuerst lockt der Rundweg mit bergab auf breiten Wegen. Im Tal wird es dann schnell abenteuerlicher. Kleine Leitern sind die Aufwärmübung, dann kommen Seilpassagen und wandern wird stellenweise zu klettern. Das alles eingebettet in die lichtflirrende grüne Märchenwelt der deutschen Laubwälder. Die Begleitmusik bietet der Ehrbach, mal fast lautlos, mal durchaus lebhaft. Sehr selten hört man eine menschliche Stimme, wenn der ein oder andere Mensch uns entgegenkommt. Die meisten mit diesem leicht verschämt wirkenden Grinsen reiner Freude auf dem Gesicht.


Die Klamm ist gut erschlossen und unterhalten, mit Stegen, Brücken, Seilen, Leitern. Das hilft besonders mir bei etwas delikateren Passagen, weil die Seile mir sagen, dass nicht nur ich hier ein bisschen weiche Knie bekomme. An einer Stelle allerdings wirkt der fünf Meter bachaufwärts liegende Steg so marode, dass wir lieber über die Steine durch den Bach hüpfen. Außerdem fünf Meter Umweg? Bergauf? Dann lieber durch den Bach!


Wir machen Rast an der Abzweigung zur Rauschenburg. Monsieur muss da hoch – ich nicht.

Er kommt zurück mit Bildern für mich und der Erkenntnis: „Steht nicht mehr viel!“ für sich.

Die Rast mit Stullen und Gurkenscheiben soll uns Kraft geben für das Aufzug-Stück. Es ist tatsächlich atemberaubend – wortwörtlich. Steil, steinig, rutschig, mit Seilen versehen ist es mir bei all meiner Flucherei und Schimpferei doch hundertmal lieber bergauf als bergab.


Irgendwann komme ich oben an, Monsieur wartet wie immer auf seine Nachzüglerin, nur um zu sehen, dass die freundlicherweise dort hingesetzte Bank schon besetzt ist, von einem Paar, das genauso erschöpft aussieht wie ich mich fühle.

Kein Problem, nur ein paar hundert Meter weiter (bergauf, aber nur noch „orange“ auf der App, nicht mehr „rot“) steht eine andere Bank mit berauschender Aussicht und einer Tafel. „Die Peedsches-Trampler“ informieren uns, dass sie es sind, die Pfade und Bänke unterhalten. Vielen Dank dafür!


Wir laufen auf der Höhe weiter, sehen auf der anderen Seite die Rauschenburg – das, was noch steht -, genießen das Gesamtkunstwerk der Natur. Die Weite des Landes, die Farben der Bäume, das Rauschen der Wälder und der Gesang der Vögel, der Geruch des Waldes an einem sommerheißen Tag, ein vielfältiges Feuerwerk an Eindrücken.


Tja, und dann verbimst die Natur es, indem sie uns zwei weitere Seitentäler in den Weg schiebt. Ich hasse es, einmal mühsam erklommene Höhenmeter wieder absteigen zu müssen, im Wissen, dass es auf der anderen Seite wieder hoch geht. Und das gleich zweimal hier.


Dafür gibt sich die Natur besondere Mühe, die Anstrengung lohnend zu gestalten. Die reine Vielfalt der Eindrücke ist überraschend: auf breiten Waldwege laufen wir durch lichte Laubwälder, kurz darauf klettern wir über klitschig-feuchte Felsstufen direkt im engen dunklen Bachtal.

Am Talgrund locken grüne Wiesen, gerahmt von hüfthohem Springkraut. Das Wasser reflektiert die Sonnenstrahlen und zaubert Bewegung auf die Moosflächen am Uferhang, aber bald müssen wir uns auf schroffe Felsspalten konzentrieren, um die Füße richtig zu setzen.

Ich komme vor lauter Schauen und Staunen fast nicht zum Mosern und Schimpfen ob der Höhenmeter.


Schauen und Staunen und Mosern und Schimpfen bringt uns hoch zum Winkelholzberg, Waldkindergarten der Gemeinde. Wie wundervoll muss es sein, hier seine Kindheit zu verspielen!

Wenig später kann ich am Auto die Wanderschuhe ausziehen. Ziemlich erschöpft, aber auch ziemlich glücklich.


Im Kopf schon das Menü für heute Abend: als primo mache ich Raddicchio-Risotte, secondo wird Saltimbocca sein mit ganz viel Salbeibutter. Den Nachtisch habe ich schon heute morgen vor der Wanderung gemacht: Espresso-Mousse, stilgerecht in kleinen Tassen serviert.
Haben wir uns verdient, das Menü.

Die Fakten

Die Traumschleife Ehrbachklamm wurde durch das Deutsche Wanderinstitut mit 98 Erlebsnispunkten bewertet. Länge 8,9 km, 390 Höhenmeter.

Ein bisschen beunruhigend


Irgendwie klappt das alles zu reibungslos. Es ist fast ein bisschen beunruhigend.


Wir sind heute morgen in diesen noblen Vorort von Koblenz gefahren, haben einen Parkplatz gefunden und die Räder abgeladen. Gut, Monsieur meint, er müsse mein Auto noch mal kurz umparken, weil es nicht korrekt genug geparkt ist für diesen noblen Vorort, aber dann geht es durch ein Sonntagmorgen-leeres Koblenz zum Bahnhof: grüne Welle an allen Ampeln.
Am Bahnsteig 5 ist zwar die Rolltreppe kaputt, aber ein freundlicher Mensch schickt uns zwei Ecken weiter zum Aufzug. Unsere Bedenken, durch die letzten Erfahrungen gestützt, werden mit einem empörten: „Das ist ein Hauptbahnhof hier! Natürlich funktioniert der Aufzug!“ weggewischt. Tut er tatsächlich.


Auf dem Nachbargleis läuft der zwei Stunden verspätete „Rheingold“ ein, auf nostalgischer Genussreise und ermöglicht uns einen kurzen Blick zurück in jene historischen Zeiten, als Bahnreisen ein elegantes Vergnügen war.


Der Zug nach Klagenfurt fällt ganz aus, der nach Dortmund hat mehrere Stunden Verspätung, aber unser Regio nach Mayen kommt pünktlich, ist völlig leer und fährt pünktlich ab. Wie gesagt, irgendwie seltsam. Ich habe das Gefühl, wenn ich mich umdrehen, wartet da etwas auf mich. Sturzregen, plötzlicher Zusammenbruch aller Bahnverbindungen, Problemchen, kleine Katastrophen, irgendetwas Unerwartetes, nicht unbedingt Angenehmes. Macht mich ein bisschen nervös…


In Mayen nehmen wir die inzwischen bekannte Strecke bis zu der Brücke, unter der wir uns beim ersten Mal auf dem Weg nach Weißenthurm verfahren haben. Diesmal geht es wirklich geradeaus weiter und die alte Bahntrasse wird zum Märchenwald. Inklusive der Drachenhöhle. Im realen Leben sind es zwei Eisenbahntunnel, die wir durchrollen, aber Drachenhöhle passt viel besser zum verzauberten Wald ringsum uns herum. Ab und an schießt ein Rennfahrer an uns vorbei, ansonsten sind wir weitgehend allein. Zwei hohe Eisenbahnbrücken bringen uns über tiefe Täler.

In Polch beschließt Monsieur, dass das gute Essen im alten Bahnhof nicht die einzige Attraktion des Ortes sein darf, schließlich bietet er die – angeblich – älteste Kirche der Eifel. Die kleine Kapelle ist sehr stolz darauf, einen römischen Grabstein als Türsturz zu haben und zeigt mit der gut sichtbaren Inschrift auch völlig ohne Scham, wem sie ihn geklaut haben. Faszinierender finde ich die Dutzende von kleinen Basaltkreuzen, die als Grabsteine zwar die Zahl, 1537 war der älteste, den ich finde, aber statt des Namens nur die Hausmarke tragen, hier eine Wolfsangel, da eine Raute oder eine Pfeilspitze.


Monsieur bietet mir noch mehr Kirchlein in Nachbarorten an, aber ich locke ihn mit der Eisdiele in Münstermaifeld. Das zieht immer. „Buttermilch-Himbeer-Torte“ heißt die Mogelpackung von Kuchen, die ich mir bestelle. Buttermilch, das ist leicht und fettarm, Himbeeren sind vitaminreich, man könnte fast glauben, dass das Ganze so richtig gesund ist.


Die Torte, die kommt, ist natürlich nicht ganz so kalorienarm wie angedeutet. Zwischen all das Leichte und die Vitamine haben sie eine Menge Schoko-Tortenböden geschichtet und das bis zu einer Höhe, die eher anderthalb Kuchen entspricht. Aber ich bin der Herausforderung durchaus gewachsen, außerdem brauchen wir ja auch Reserven für die nächsten Kilometer.


Die letzten haben wir nämlich kurz hinter Pillig aufgebraucht – für ein Missverständnis. Wenn ich Elzbachtal und Burg in einen Satz lese, ist das für mich natürlich Burg Elz. Für alle, die sie nicht kennen, schaut mal gerade im Portemonnaie nach, ob ihr noch zufällig einen 500-Mark-Schein drin habt. Genau, das ist Burg Elz. Die man laut Tourbeschreibung von Pillig aus sehen kann. In Pillig und um Pillig herum gibt es auch genug Wegweiser zu Wanderparkplätzen zur Burg Elz, es gibt auch einen Elz-Radweg, dem wir natürlich nicht folgen, da wir auf dem Maifeld-Mosel-Radweg sind.

Ich bin so überzeugt, dass wir die Burg Elz sehen werden, dass ich Burg Pyrmont einfach wegwinke: falsche Burg, die richtige kommt noch. Wir sausen die steile Abfahrt zur Pyrmonter Mühle hinunter (wohl wissend, dass wir später – nach der Burg Elz – das alles wieder hochfahren müssen) und Monsieur hält an, um kurz die Streckenbeschreibung zu kontrollieren. Da ist er dann, mein Fehler, natürlich steht da Elzbachtal und Burg, aber dahinter dann auch Pyrmont.

Tja, wer lesen kann, ist klar im Vorteil und hätte sich einige stramme Kilometer bergauf erspart. Denn eines ist klar: für die Pyrmont hätte ich diese Schleife nicht gemacht.


Das alles ist bei der Pause in Münstermaifeld schnell vergessen. Wir gönnen uns noch einen kurzen Blick in die imposante Stiftskirche, die irgendwie auch etwas Wehrhaftes, Burg-Ähnliches hat und nehmen die Feldwege bis Mörz in Angriff, das letzte bisschen bergauf für lange Zeit.


Was dann kommt, ist reine Radler-Freude: auf kleinsten Sträßchen bergab durch ein enges Tal. Lamas machen Mittagspause im Schatten, Mühlen liegen idyllisch hingetupft am Bach, es ist einfach nur wunderbares Rollen-lassen.


In Hatzenport holt uns dann die Realität wieder ein. Wir sind so beschwingt, dass wir auf die Mithilfe der Bundesbahn verzichten und erstmal die Weiterfahrt an der Mosel angehen. Natürlich sind wir nicht die einzigen an diesem Sonntagnachmittag. Nachdem uns die fünfte Motorrad-Kavalkade in Lärm und Abgase gehüllt hat, wechseln wir auf die andere Moselseite, deutlich weniger Verkehr, aber auch deutlich weniger Radweg.


Wir überholen einen dieser hässlichen Flusskreuzfahrtkästen, am nächsten Fotostopp schiebt er sich wieder an uns vorbei, aber wir sind zuversichtlich: die Mosel hat so viele Schleusen, da sind wir auf jeden Fall schneller in Koblenz.


In Alken gönnen wir uns im Turm-Restaurant der Burg Thurandt (das Radfahrer-freundlich direkt unten an der Mosel liegt) einen kleinen Moselwein und stellen fest, dass am späten Nachmittag die meisten Motorradfahrer wohl wieder auf dem Nachhauseweg sind. Wir kreuzen zurück und geraten in Winnigen mittten ins Weinfest, weiterkommen nur zu Fuß möglich in der fröhlich feiernden Menge. Angeblich das größte Weinfest der Mosel – und das nächste ist schon geplant!

Hinter Winnigen geht es kurz steil hoch in die Weinberge und da ist der Moselradweg dann so idyllisch wie wir uns das erhofft haben. Die prallen Trauben tanken den letzten Sonnenschein, die Reben klettern rechts von uns steil die Hänge hoch, links liegt tief unter uns der Fluss.


In Güls geht es über die Eisenbahnbrücke ins Rauental und am Bahnhof vorbei zu unserem Auto. Wie gesagt, alles hat reibungslos geklappt, wenn wir auch sagen müssen, dass 72 Kilometer eindeutig zu viel sind für uns und die Batterien. Am Auto angekommen stellen wir fest, dass Monsieur nicht nur nicht abgeschlossen hat, auch die Fahrertür hat er nicht zugeworfen. Aber selbst das – Nobelvorort oblige – führt nicht zu zu erwartenden Problemen, alles unberührt noch im Auto.


Wir fahren nachhause, langsam entspanne ich mich. Fast zuhause, was soll da noch schiefgehen?


„Was kochst du denn heute Abend?“, fragt Monsieur.


Achja…

Real-Satire


Wir haben es ja eh nicht so mit dem Frühaufstehen. Als wir heute morgen das Wetter sehen – 12°, dichter Nebel – beschließen wir spontan, den späteren Zug zu nehmen und drehen uns noch mal gemütlich um.


Um halb zehn stehen wir mit den Rädern auf dem Bahnsteig – nicht ohne Mühen, denn der Aufzug zu Gleis 2 ist defekt. Die Anzeige informiert uns, dass der frühere Zug in zwei Minuten einfahren wird, mit über 70 Minuten Verspätung. Wir grinsen uns an, da hätten wir uns schön geärgert, wenn wir tatsächlich so früh aufgestanden wären.


Das ist dann das letzte Grinsen, denn die Real-Satire beginnt. Der frühe Zug kommt nicht. Seine Verspätung wird immer länger, unser späterer Zug wird lapidar als „Fällt heute aus“ angekündigt. Zwischendurch wird ein Ersatzzug versprochen, der aber, so wird uns mitgeteilt, nur bis Andernach und keinesfalls zu unserem Ziel Mayen weiterfahren wird.
Ratlosigkeit macht sich breit unter den Wartenden. Irgendwann taucht am Horizont ein Zug auf, unendlich langsam quält er sich näher. Ich erwarte Ennio-Morricone-Musik, Tumble weeds, Indianerpfeile in den Türen, mindestens!, als er mit einem Seufzer vor uns seinen Geist aufgibt. Die Türen öffnen sich, Hunderte verärgerter Menschen stürmen auf den Bahnsteig, telefonieren, gestikulieren, diskutieren. Es stellt sich heraus, das dies der Zug vor dem frühen Zug ist , der vor inzwischen drei Stunden begonnen hat Pendler und Schüler einzusammeln. Niemand weiß, was mit den anderen Zügen passiert ist, sehr mysteriös.


Das Bahnpersonal informiert uns – mit für mich völlig unangebrachter Fröhlichkeit -, dass wir gar nicht erst nicht einzusteigen brauchen, da dieser Zug sowieso nicht weiterfährt, da er kaputt sei.

Ein Zug kaputt, einer ausgefallen, einer auf mysteriöse Weise nicht auffindbar, irgendwie scheint mit der Linie nach Mayen etwas ganz Grundsätzliches nicht zu stimmen.


Und nun?
Mit dem Rad nach Mayen? Nach Andernach? Rheinabwärts? Die Strecke mal ohne Regen? Ein bisschen langweilig. So richtig hübsch ist das Neuwieder Becken mit all seinen Industrieanlagen auch nichts. Bleibt immer noch das vielbeworbene UNESCO Weltkulturerbe Oberes Mittelrheintal mit all seiner Burgen- und Fachwerkromantik.


Um kurz vor zehn soll der Rheingau-Regio Richtung Frankfurt fahren, den könnten wir bis Kaub nehmen und von da nachhause radeln. Allerdings kommt der Zug auf Gleis 5 an und natürlich ist auch dieser Aufzug defekt. Monsieur schimpft nicht schlecht, bis wir die Fahrräder auf Gleis 5 haben.
Fünf Minuten vor Zugabfahrt kommt eine Durchsage, dass auf Gleis 5 nun der Zug von Neuwied ankomme. Tut er tatsächlich. Das könnte knirschen, wenn in zwei Minuten der Rheingau-Regio auf dem selben Gleis einfährt. Der Rheingau-Regio bekommt zu seinem Glück eine Gleisänderungsansage, zu unserem Glück Gleis 4 auf dem gleichen Bahnsteig. Der Zug kommt fast pünktlich, wenn auch aus unerwarteter Richtung. Aber was weiß denn ich, wie die Bundesbahn von hier nach Frankfurt kommen will, tröste ich mich beim Einsteigen. Der junge Mann auf den Radplätzen steht auf, er steige ja eh gleich in Koblenz aus. „Wieso Koblenz?“, fragen wir und ein Dutzend anderer Fahrgäste und können gerade noch wieder aussteigen, wo uns der Zugführer auf Zuruf bestätigt, dass, ja, dies ein Zug nach Koblenz sei, offensichtlich eine kleine liebevolle Überraschung der Bundesbahn für ihre verwirrten Fahrgäste.


Irgendwann kommt der Rheingau-Regio und wir steigen ein. Auf den Fahrradplätzen sitzen resolute Rentner, die auch nicht aufstehen wollen. Wir stehen also. Im mehrfachen Sinne. Erstmal in Lahnstein, dann vor Braubach, dann… Es gibt jedesmal eine „Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund“-Entschuldigung. Klingt für mich, als hätte der Fahrdienstleiter ein Büchlein mit Ausreden, die er nun durcharbeitet.
Völlig überraschend und eigentlich nicht mehr erwartet, erreichen wir dann doch noch Kaub und steigen aus. Der Bahnhof, verwahrlost, ungepflegt, hat zumindest eine Rollstuhlrampe.
Natürlich nicht an unserem Gleis.


Wir sind vor acht Monaten in dieses für uns „Ausland“ zurückgekehrt. Ganz ehrlich, so richtig überzeugend finde ich das Land bis jetzt (noch) nicht.


Aber da war doch noch was…
Achja, die Radtour: Die Fähre bringt uns auf die linke Rheinseite, der sehr nette Schiffer preist uns ein Doppelticket für die Rückfahrt auf der Bopparder Fähre an, das wir nicht brauchen, Eisenbahnbrücke vor Koblenz…
„Koblenz? Das sind 50 Kilometer! Das wissen Sie schon?“, sorgt er sich um uns. Wissen wir, können wir. Die Batterien sind aufgeladen, die Strecke fast flach, das ist alles kein Problem.
Wenn da nicht dieses UNESCO Weltkulturerbe Oberes Mittelrheintal wäre, das uns dauernd Hindernisse in den Weg schiebt. In Oberwesel etwa den Rundgang auf der mittelalterlichen Stadtmauer oder die überwältigend schöne Liebfrauenkirche.

Vor St. Goar – Ich weiß nicht, was soll es bedeuten – die Aussicht auf den Loreleifelsen oder bei Rheinkilometer 560 den Blick auf jenes wunderliche Kirchlein, das man nur durch die benachbarte Kneipe betreten kann. Interessanter theologischer Ansatz.


Dass wir in Boppard nicht ohne einen Kuchenstopp über den Marktplatz kommen, ist uns klar. „Torten Träume“ bietet das Café an. Monsieur kann romantisch sein, sehr, doch, ja, aber heute grummelt er, dass ihm Torten Realitäten lieber wären.
So gestärkt gehen wir die letzten Kilometer an und kommen mit Tachostand 50 auf dem Bahnhofsparkplatz bei unserem Auto an.

Am Freitag werden wir der Bundesbahn eine weitere, eine letzte Chance geben uns nach Mayen zubringen.
Danach pfeifen wir auf umweltfreundliche Alternativen und nehmen das Auto für die gesamte Anfahrt. So!

Hat funktioniert, der Plan

Natürlich nicht der, der den Zugwechsel in Limburg vorsah. Wäre ja auch zu einfach gewesen und wahrscheinlich auch vollkommen naiv von unserer Seite, das anzunehmen. Fünfzehn Minuten Spielraum, der Anschlusszug am gleichen Bahnsteig, nur auf der anderen Seite, wie soll das klappen? Wahrscheinlich nur, wenn man – so wie wir – noch eine völlig romantisierende Vorstellung einer zuverlässigen und pünktlichen Bahn hat. Denn natürlich hat unser Zug 13 Minuten Verspätung und der andere Zug einen Gleiswechsel aufs übernächste Gleis.
Wir sind nicht die einzigen, die in Limburg wie katapultiert aus dem Zug stürzen. Gut zwei Dutzend Menschen – mit Rucksäcken, mit Wanderstöcken, mit Fahrrädern, ja, einer trägt sogar ein Faltkanu in einer Tasche, die Paddel im Rucksack – sprinten auf die Treppen zu, um mit einem kollektiven „Arrrgghhh!“ stehen zu bleiben, als auf dem Nachbargleis der Zug anfährt.


Sozusagen der Bahn gewordene grinsend gezeigte Stinkefinger.


Natürlich sind wir alle verärgert, frustriert, enttäuscht. Wer richtig wütend ist, ist die Schaffnerin, die sich mächtig aufregt, dass der Zug nicht die drei Minuten warten wollte. „Ist doch nur ein Regio, ist ja schließlich kein IC!“, beendet sie ihre Tirade. Wir nehmen es philosophisch, vielleicht haben wir hier und heute den einzigen – fast bin ich versucht zu sagen „den einzigsten“ – pünktlichen Zug der Bundesbahn gesehen.


Unser Plan ist erstmal gescheitert. Wir „machen“ gerade die Lahn, in Scheibchen. Lahnstein-Dausenau war letztes Jahr, Dausenau-Obernhof letzten Montag und heute Weilburg-Obernhof. Oder auch nicht. Gut, Weilburg dann eben nicht, aber auf Runkel hatte ich mich sehr gefreut, das will ich mir nicht von der Bundesbahn nehmen lassen.

Also müssen die Ardenner richten, was die Bahn verbimst hat. Wir machen uns von Limburg auf in Richtung Runkel, bevor es dann – fast plangemäß – zurück nach Obernhof gehen soll.


Der Morgen ist noch frisch, die Ardenner und wir auch, da schiebt uns Dietkirch hoch oben auf einem Bergsporn die Lubentius-Kirche dazwischen. Das machen wir.
Ein freundlicher Mensch hängt vor der Kirche BUND-Plakate auf und verspricht ein Auge auf die Ardenner zu haben, ohne mühsames Schlösser aus den Radtaschen kramen.


Die Kirche ist romanische Klarheit, wenn sie auch hier und da in den Seitenkapellen Spuren von Barock versteckt haben. Ein Organist übt Tonleitern, zwischendurch explodieren himmeljauchzende Tonfolgen. Das Musikfeuerwerk, die reine Schönheit des Raumes, wir sind begeistert. Als wir dem Organisten in einer Pause eine „Danke schön“ hochrufen, kommt ein etwas ratloses „Wofür?“ zurück.


Kurz vor Runkel haut es mich in einer engen Wende heftig gegen ein Geländer. Ich stürze, Plastik knackt, die Kette springt raus und ich bin mit weichen Knien dem Geländer sehr dankbar, dahinter geht es fünf Meter tief auf die Bahntrasse. Aber wir (ähm, nun ja, „wir“ …) haben den Schaden schnell behoben und die Burg in Runkel ist dann so bezaubernd schön, dass das Missgeschick schnell vergessen ist. Mittelalter-Romantik vom Feinsten mit Fachwerk, Efeuranken und bunten Fenstern, gekrönt von einem hohen Bergfried. Die fünf Stockwerke engster Treppenstufen sind das Anstrengste an diesem Tag – aber welche eine Aussicht.


Fast so schön wie die Kuchentheke im Altstadt-Café eine Straßenecke weiter. Wir entscheiden uns dann doch für ein eher deftiges Mittagessen. Monsieur liebäugelt noch kurz mit einem Kuchen, aber das wäre wohl zuviel des – offensichtlich sehr – Guten.


In Limburg ist inzwischen die Stadt erwacht und beim Samstagsspaziergang. Auf dem Radweg tummeln sich viele Menschen mit und ohne Räder oder Kinderwagen, dazwischen genauso viele Kinder mit oder ohne Bobby-Cars, Dreiräder oder Tretroller. Wir fädeln uns vorsichtig durch, gönnen uns einen kurzen Blick auf die Altstadt und verpassen unter einer sehr hässlichen Brücke fast die Auffahrt auf eben diese sehr hässliche Brücke. Stadtdurchfahrt, naja, meist nicht so schön. Diez kann das noch toppen mit langwierigen Bergauf-Umwegen, für die die paar Fachwerkhäuser in der Altstadt nicht wirklich entschädigen.


Aber das liegt schnell hinter uns, denn das Etappenziel lockt, das Stellwerk im Bahnhof Balduinstein. Genauergesagt, die Kuchentheke im Bahnhofscafé. Die Kuchen sind durchnummeriert. Vielleicht, um die – meist holländisch sprechenden – Touristen nicht mit Maracuja-Kirsch-Kokosraspel-Torte zu überfordern. Vielleicht auch, weil die Besitzerin keine Lust, jeden Morgen solche Wortungetüme wie Rhabarber-Baiser-Cheesecake auf Schildchen zu schreiben. Monsieur entscheidet sich jedenfalls für Nummer 2, ich für Nummer 5, Sportlernahrung vom Feinsten.


Dann dürfen wir einen Kompromiss fahren. Irgendwo zwischen Geilnau und Laurenburg wohnt ein seltener Schmetterling, der in seinem bunten Treiben nicht von dem vorbeiradelnder Menschen gestört werden wollte. Deshalb mussten die Menschen eine sehr lange, sehr steile und sehr verkehrsreiche Straße nach Holzappel hochstrampeln, um auf der anderen Seite den dito Abstieg zu bewältigen.
Irgendwann haben Radler und Schmetterlinge mit Hilfe des Landes Rheinland-Pfalz einen Kompromiss gefunden und so können wir über zwei Brücken und ein Stück funkelnagelneuen Radwegs auf der anderen Lahnseite im Tal bleiben, schön flach. Ich hoffe, es freut die Schmetterlinge nur halb so sehr, wie es mich gefreut hat.

Kloster Arnstein ist eine wunderbare Anlage hoch über der Lahn. Meine Eltern haben dort geheiratet, weshalb das Kloster für mich eine besondere Bedeutung hat.
Der Ort im Tal dagegen, Obernhof, ist nicht nur der End-, sondern leider auch der Tiefpunkt der Tour.
Wir hatten geplant, dort nach sechzig Kilometern für die letzten Kilometer zum Bahnhofsparkplatz in Nassau in die Bahn zu steigen. Die Batterien zeigen noch zwei Striche, meine persönliche Anzeige eher weniger.


Die Lahnbrücke in Oberhof wird repariert, die Straße ist aufgerissen, kein Durchkommen möglich. Eine Fußgänger“Umleitung“ zum Bahnhof ist ausgeschildert: über einen mit zerfahrenem Bauschutt und Schotter gefüllten LKW-Wendeplatz, zwischen zwei engen Absperrgittern zu einem Stück Wiese an der Lahn. Dort vier Treppenstufen hinunter, auf einem Stück gepflasterten Treidelpfad unter der Brücke hindurch und auf der anderen Seite wieder erst über Wiese, dann Schutt und Schotter, bis am Bahndamm dann tatsächlich eine lange Rampe den Zugang zum Gleis ermöglicht.


Für uns mit den Fahrrädern eine Herausforderung, für Eltern mit einem Kinderwagen eine Zumutung, aber für Menschen mit Gehbehinderung oder im Rollstuhl schlichtweg eine Unverschämtheit an Gedankenlosigkeit.


Ich bin also schon nicht richtig gut gelaunt, als mich die Tristesse des mit kniehohen Disteln bewachsenen Bahnsteigs anspringt. In dieser deprimierenden Umgebung auf den Zug warten? Nein, dann lieber nochmal aufs Rad und auf das Energiepotential, das Kräftereservoir der reinen Sturheit setzen.


Reine Sturheit kann meine Laune immer beträchtlich verbessern. So endet unsere Tour mit einem befriedigt gelachten „Geht doch!“ in Nassau – und das lange bevor unser Zug in Obernhof hätte einfahren sollen.


Monsieur hebt die Räder auf den Fahrradträger und die dunkle Gewitterwolke, die uns seit einer Stunde folgt, dreht ab.
Das war so geplant. Heute haben wir nämlich die Regencapes eingepackt, planend, hoffend, wissend, dass wir sie dann wohl nicht brauchen werden.
Hat funktioniert, der Plan.

Fast genauso


Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See…

Gut, es sind Beeren, keine Birnen und sie sind rot, nicht gelb und sie hängen nicht in den See, sondern über die alte Bahntrasse von Bassenheim nach Münstermaifeld. Aber ansonsten ist es fast genauso wie bei Herrn Hölderlin.


Die gleiche Mischung aus üppiger, praller Herbstpracht und leichter Melancholie, die Freude über den gut gedeckten Tisch der Natur und die leichte Wehmut der „Herr-es-ist-Zeit.-Der-Sommer-war-sehr-groß“-Abschiedsstimmung der schon abgeernteten Felder.


Der Sommer war bis jetzt vor allen Dingen nass, aber heute schaffen wir es tatsächlich, im Sonnenschein durchs Maifeld zu radeln. Das Maifeld liegt nur gerade ein paar Schritte westlich der Pellenz und ist ganz sanft gewellte Lieblichkeit. Die Radstrecke führt fast 20 Kilometer genauso leicht gewellt durch grüne Baum- und Heckentunnel, aus denen die rot-schwarze Pracht der Holunder- und Weißdornbeeren auf uns herabblickt. Feldwege schaffen Fenster mit weitem Blick übers Land. Schwarzgraue Steinbrocken am Wegrand erheben den Anspruch Kunst zu sein, berühren mich aber nicht so sehr wie das Wissen, dass für die Tiere der Tisch reich gedeckt sein wird.

Bevor das alles zu sehr ins Emotionale abgleitet, lockt der alte Bahnhof von Polch mit kühlen Getränken und deftigen Speisen.


Damit die 40 Kilometer hin und zurück nicht zu flach sind, führen uns unsere Begleiter am Ende der Tour noch zu einem gut gehüteten Geheimnis. Besser gesagt, sie verführen uns, die steile Straße in die Ortsmitte von Ochtendung hinabzusausen zur besten Eisdiele der Gegend.
Da ist dann nicht mehr die Rede von Herbstromantik und poetischer Wehmut, da müssen wir uns den praktischen Fragen des Alltags stellen: Holunder? Oder Erdnuss-Salzkaramell? Im Becher oder im Hörnchen? Schwierige Fragen.
Und die letzte: reichen die Batterien für die steile Rückfahrt?

Versicherungsschein


Rheinland-Pfalz ist großzügig. Für nur zwei Euro mehr als die Einzelfahrscheine von der Lahn nach Mayen kosten sollen, bietet das Rheinland-Pfalz-Ticket uns unbegrenzten Fahrspaß auf allen Linien. Wenn wir wollen, können wir für wenig mehr Geld sogar noch drei Kinder, drei Hunde oder drei Fahrräder zusätzlich mitnehmen. Unsere Kinder sind beschäftigt, Hunde haben wir keine und drei zusätzliche Fahrräder fände ich nun eher unpraktisch. Auch das unbegrenzte Fahren ist eigentlich nicht geplant. Genau genommen ist Rheinland-Pfalz-Ticket so etwas wie ein Versicherungsschein, ein Maskottchen, ein Amulett, ein Regenzauber. Nur wirklich notwendig, falls wir wegen Regens nicht mit dem Rad zurückfahren wollen.
Der ist mit <1mm, 42% Wahrscheinlichkeit für den Nachmittag vorhergesehen, das ist ein Risiko, das wir eingehen können.


Die Bahn bringt uns erstaunlicherweise pünktlich nach Mayen, wo uns etliche Wegweiser vor dem Bahnhof erwarten, einer mit etwas, das wie eine explodierende Kartoffel mit Armen aussieht. Das ist aber Vulkanius, das Maskottchen des Vulkanparks und folglich unseres Vulkanparkradwegs.
Wir folgen dem kleinen Kerl aus Mayen hinaus in die Pellenz, zwischen von der Natur geschaffenen Vulkankegeln und vom Menschen geschaffenen Industriegebieten. Es ist schwierig, Fotos von der Landschaft zu machen, ohne eine Kiesgrube, ohne einen Steinbruch aufs Bild zu bekommen.


Nach ein paar Kilometern wird es aber so idyllisch wie gehofft. Der Weg führt durch Felder an Bachauen entlang. Graue Basaltkreuze stehen hingetupft in die Landschaft, der schwarz-trutzige Tuffstein lässt Bauernhöfe wie mittelalterliche Wehrburgen aussehen.


Das alles fast ohne Steigungen, Fahrrad fahren wie ich es liebe.


Vor Plaidt machen wir einen Abstecher zum sehr sehenswerten Römerbergwerk in Meurin. Beim Bimsabbau (oderirdisch) brach ein Bagger ein und man entdeckte unterirdisch den von Tunneln und Höhlen durchzogenen uralten Tuff-Steinbruch der Römer. Das alles wird sehr schön dargestellt. Physikalische Spielereien fordern auf, die Ingenieursleistungen zu bewundern. Bei Flaschenzügen und Sägewerken können wir selber Hand anlegen, sogar eine frühe Küchenmaschine zum Teigkneten können wir bewundern.


Nur eines bringt Punktabzüge: kein Museumscafé. Zwar gibt es ein paar Tische und Bänke im Eingangsbereich, aber das ist es dann auch. Als wir fragen, ob wir dort unsere Butterbrote auspacken dürfen, kramt der Mann an der Kasse eine Kaffeemaschine aus einem Schrank und bringt uns zwei Tassen. Während er uns Anekdoten zum Museum erzählt, beobachtet Monsieur mit einem Auge den Regenradar. Eine beindruckend bösartige Gewitterfront kommt beeindruckend schnell auf uns zu und bald können wir den Regen auf das Tragedach der Museumshalle prasseln hören. „Ach was,“ winkt der Herr ab, „das ist nur der Wind. Wenn das wirklich Regen wäre, könnten Sie kein Wort mehr verstehen.“


Um drei Uhr sollte die Regenfront durch sein. Abwarten und aussitzen oder weiterfahren? Und was ist, wenn der Regenradar genauso zuverlässig ist wie die <1mm, 42% -Vorherssage.
Wir wagen es, im leichten Nieselregen geht es an der Nette entlang nach Weißenthurm, vielleicht ja doch nur <1mm, 42% . Die Bahnhofsstraße lockt kurz mit der Alternative, aber die Ausstrahlung des Rheins ist größer. Selbst als drei Männer, die uns diskutierend überholen, beschließen, abzubrechen und den Zug zu nehmen, bleiben wir stur.


Orientierung ist jetzt einfach, immer am Wasser entlang, erst Richtung Moselmündung, die Mosel überqueren, dann wieder am Rhein entlang bis zur Horchheimer Eisenbahnbrücke um zu kreuzen und zur Lahnmündung zu kommen. Alles ganz einfach, bis es dann doch sehr, sehr viel Wasser wird. Nicht links von uns im Rhein, nein, von oben und kurz darauf auch von unten, weil es eh sinnlos ist, den Pfützen auszuweichen. Wir sind sowieso schon klatschnass. Natürlich haben wir zwei bunte Regencapes, die uns von Kopf bis Unterschenkel abdecken, die liegen – wahrscheinlich schadenfroh kichernd – zuhause in einer Schublade.


Die Rheindörfer ziehen vorbei, ein kleiner sehnsuchtsvoller Blick auf unser Lieblingsrestaurant in Kaltenengers. Aber wer will schon zwei klatschnasse Gäste die Sitze volltropfen haben? Wir verwerfen auch die Zug-Option, lieber im Regen die Muskeln bewegen als klatschnass auf zugigen Bahnsteigen stehen. Inzwischen sind wir so im Endorphin-Rausch, dass wir nur noch lachen können über das Wetter.

Natürlich gibt es keine Fotostopps mehr.
Die alte Römerbrücke im Regen – müsst ihr euch vorstellen.
Das Deutsche Eck im Regen – müsst ihr euch vorstellen.
Das Koblenzer Schloss und die Rheinanlagen im Regen – müsst ihr euch vorstellen.

Etwas ärgerlich ist allerdings, dass Koblenz mit diversen Bauarbeiten in den Rheinanlagen uns zu langwierigen Umwegen zwingt, so als sei der Regen nicht genug. Irgendwie schaffen wir es über die Eisenbahnbrücke auf die andere Rheinseite, wo wir dann durch Lahnstein abkürzen. Johanniskloster kennen wir, das brauchen wir nicht im Regen.


Inzwischen ist es auch später Nachmittag, der Wind unfreundlich kalt und ich habe ein Mantra: mein Auto hat Sitzheizung. Ja, mein Auto hat Sitzheizung und da ist es mir völlig egal, dass es Hochsommer ist in Deutschland, das ist die Motivation, die mich die letzten Kilometer antreibt.


Wenig später stehen wir nach 62 Kilometern vor meinem Auto: sehr nass, sehr müde und sehr, sehr glücklich und stolz.

Digital detox

Ja, genauso werde ich das nennen. Digital detox, das klingt nach eigener Entscheidung, nach selbstbestimmter Askese, nach wohldurchdachtem Verzicht. Klingt einfach gut.


Jedenfalls viel besser als die schnöde Wahrheit.


Ich habe nämlich meinen Laptop kaputtgemacht, zum zweiten Mal. Als er das erste Mal auseinanderbrach, war Monsieur entsetzt und empfahl mir für das Nachfolgemodell ein Aluminium-Gehäuse. Habe ich auch kaputt bekommen.


Das führte dann zu einer längeren Phase der Laptop-Abstinenz.

Bei uns gibt es bestimmte Rituale, wenn ein Gerät kaputt geht.

Als erstes schraubt Monsieur es auf und schaut nach, ob alles da ist, wo es sein soll, ob etwas fehlt oder zuviel ist.
Wie bei der defekten Toilettenspülung, wo er im Mechanismus eine langsam mit Kalk übersinterte tote Fliege fand und entfernte. Danach funktionierte wieder alles.


Nach dem Schraubenzieher kommen Zange, Hammer und der Lötkolben. Das ist ähnlich wie bei der Spanischen Inquisition, wo dem Opfer ja auch erst alle Folter Instrumente gezeigt wurden. Diese Phase ist oft begleitet vom Schauen lustiger Internet-Videos, in denen uns vollkommen fremde Menschen wertvolle Ratschläge geben. Menschen, die wir natürlich nicht kennen und auf deren Kompetenz wir uns wohl blind verlassen müssen.


Wie bei der kaputten Spülmaschine, die Monsieur Schicht um Schicht, Video um Video Ratschlag auseinanderbaute, um etwa mit Magneten Nägel durch verstopfte Schläuche zu führen. Wir haben viel gelernt und auch viel gelacht. Weniger beim Abspülen von Hand, aber das war in Ordnung so.
Dann kommt die Phase des Wieder-Zusammensetzens, häufig begleitet von Sätzen wie: „Komisch! Die zwei Schrauben habe ich übrig. Keine Ahnung, wo die waren. Wird wohl nicht so wichtig sein.“


Gefolgt vom magischen Moment des Einschaltens – manchmal erfolgreich, wie beim Kaffeevollautomaten, was dann die Koffein-Detox beendete.


Manchmal aber auch gefolgt von der Erkenntnis, wie bei meinem Laptop und der Spülmaschine, dass doch ein neues Modell bestellt werden muss.


Damit endet dann meine Phase der Digital Detox. Jener Zeit ohne „mal schnell“ etwas im Internet nachzuschauen, „mal gerade noch“ das Spiel fertig zu spielen, „mal kurz“ in das Video zu klicken. Auf dem Handy mag ich das alles nicht und deshalb blieb es bei meiner Abstinenz.


Ach übrigens, die einzige, der diese Phase gefallen hat, war meine Kreditkarte. „Mal spontan“ etwas Schönes zu erwerben war natürlich auch nicht drin.

Sie zittert jetzt schon, meine Kreditkarte.

Titanic II


Das ist mein erster Gedanke, als ich das Bühnenbild zu Madame Butterfly sehe: Titanic II – jetzt spricht der Eisberg.
Aber natürlich sind meine lästerlichen Überlegungen falsch. Genauso exquisit und verletzlich wie die Heldin der Oper stellt das Bühnenbild eine Schriftrolle, ein Rollbild dar, das an das alte Japan erinnern soll. Ein Stück Japanpapier, das ver-, das weggeworfen wurde und dann zerknüllt – und wie ein Segel aus dem Wasser ragend – vom Wind ans Ufer getrieben wurde. Des Bodensees, von Nagasaki aus, sicher auf geheimnisvollen Wegen…


Nach der langen Corona-Pause freuen wir uns auf die Darbietungen der Seebühne Bregenz, dieses Mal eben Madame Butterfly von Herrn Puccini.


Dazu gehört für uns auch immer eine Führung durch das Bühnenbild und so dürfen wir erst einmal in der VIP-Loge Platz nehmen, in der uns die Führerin erklärt, dass James Bond alias Daniel Craig hier auch schon gesessen habe. Anders als James Bond gehen wir dann ganz unspektakulär die Treppen hinunter zur Bühne. Unterwegs erfahren wir eine Menge zu Größe und Gewicht der Konstruktion und dass alle Mitarbeiter, von der Diva bis zum Statisten, schwindelfrei sein müssen auf den gelegentlich über zwanzig Meter hoch liegenden Bühnen und Ausstiegen. Dass alle schwimmen können müssen, für den Fall der Fälle. Außerdem – und da wäre ich dann raus – keine Angst vor Spinnen haben dürfen. Diese letzte Klausel wäre eingefügt worden, nachdem eine Diva quasi fünf Minuten vor der Premiere einen hysterischen Anfall beim Anblick eines solchen Achtbeiners auf dem Garderobenspiegel bekam und die Aufführung hinschmiss.


Wir kommen ohne traumatische Begegnungen der achtbeinigen Art durch das Innenleben der Bühne, vorbei an Nischen mit Zetteln: Teebecher, Fächer, Papierschirm für die Requisiten und steigen ab in den dunklen „Keller“. Die Führerin schaut sich um, ihr Blick fällt auf Monsieur, groß, kräftig und mit seiner geliebten fluogrünen Freizeitjacke weithin sichtbar. „Sie sind jetzt mein Schlusslicht,“ sagt sie im charmantesten Österreichisch. „Sie sorgen mir dafür, dass keiner hier unten verloren geht.“
Monsieur ist dieser Aufgabe durchaus gewachsen, auch wenn er dadurch einige Erklärungen nicht mitbekommt, weil er auf selbstvergessene Selfie-Stars warten muss. Dafür strahlt er aber wohl soviel Autorität aus, dass einige fotografierende Ehemännern von ihren Frauen weggezerrt werden, um seinem Blick zu entgehen.

Am Abend, nach dem Prä-Oper-Dinner im Hotel in Lindau, bringt uns die „München“ an die Seebühne. Diesmal ganz ohne Sturm, ganz ohne Drama bei der Anreise.


Das Drama entfaltet sich dann auf der Bühne, mit einem so arrogant-überheblichen Pinkerton, dass ich ihn am liebsten ausbuhen möchte. Der seiner Butterfly nur vortäuscht sie zu heiraten, sie bald verlässt, alles mit der schönen überheblichen Einstellung, dass ihm das zustehe. Damit nicht genug. Butterfly, inzwischen Mutter, wartet unerschütterlich hoffend auf diesen Fiesling. Tatsächlich kommt er nach drei Jahren zurück. Allerdings mit seiner neuen, amerikanischen Ehefrau, um seiner ersten Frau nun auch noch das gemeinsame Kind wegzunehmen.


Zurück bleiben ein Scherbenhaufen der Gefühle, eine in Verzweiflung sich selbst tötende Butterfly und – wahrscheinlich – jahrelange Therapiesitzungen für den Rest der Familie.

Außer für Pinkerton natürlich, der sich sicher nichts vorzuwerfen hat.

All das verpackt in traumhaft schöne Musik, bezaubernde Ballettszenen und die für Bregenz obligatorische Mitwirkung des Sees. Die Oper zieht mich tief hinein in dieses Wechselbad der Gefühle, magische Tanzszenen verzaubern und lösen die Anspannung. Der japanische Bösewicht wird von Butterflys Amme verhauen und stürzt in den See, zu allgemein erleichtertem Gelächter.


Bei aller Magie habe ich am Schluss das dringende Bedürfnis, ein oder zwei deutliche Worte mit Herrn Pinkerton wechseln zu wollen. Allein, im Dunkeln, hinter der Seebühne. Nur der Bodensee als Zeuge.


Platsch…